Der Unterschied zwischen Kultur und Politik

 

Unter dem Eindruck der Lektüre des «Kulturinfarkts»[1] und der Meldung dieser Woche, Günter Grass habe in verschiedenen Zeitungen ein Gedicht zum Atomkonflikt zwischen Israel und dem Iran veröffentlicht und sich so als nonkonformistischer Grossdenker in Erinnerung gerufen[2].

Die kulturelle Perspektive spricht davon, wie es ist. Politisch wird sie einzig dadurch, dass sie den Ist-Zustand als gewordenen zeigt. Insofern dieser Zustand kein idealer ist – und das ist er nie –, stellt diese Perspektive frühere und aktuelle Machtträger in Frage, weil sie unausgesetzt sagt: Auch ihr habt nicht recht.

Die politische Perspektive akzeptiert diese Kritik insofern, als sie sagt, bevor sie Recht haben könne, müsse sie Recht bekommen. Darum stellt sie dem nichtidealen Jetzt ein idealeres Morgen entgegen, das es zu realisieren gelte. Zu wissen, wie es besser sein könnte als es ist, ist das Axiom des politischen Denkens.

Kulturelles Denken jedoch weiss nicht, wie es besser sein könnte. Anders wohl, aber besser?

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Zwischen dem kulturellen und dem politischen Diskurs gibt es eine Arbeitsteilung: Der kulturelle Diskurs verflüssigt das schicksalhaft Seiende zum menschgemacht Gewordenen, indem er neue Blicke bietet auf das, was ist. Über die Entwicklung dieser Perspektiven hinaus ist er interesselos – sein Interesse ist zu sehen, nicht der Zugriff auf das Gesehene.

Der politische Diskurs lernt von den kulturellen Bildern der Gewordenheit und Gemachtheit des Ist-Zustands und geht davon aus, dass alles, was geworden und gemacht ist, verändert werden kann. Darauf baut der politische Diskurs nach Massgabe der materiellen Interessenlage jener, die ihn vertreten.

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Kultur als Perspektive führt aus den Bildern der spekulativen Vergangenheit bis hart an den Ist-Zustand heran. Politik ihrerseits reflektiert den Ist-Zustand und versucht, ihn zu verändern im Hinblick auf eine spekulative Zukunft.

Während des Lidschlags der Gegenwart gibt es weder Kultur noch Politik, sondern bloss witternde Tiere, die sich in ihre Bilder einer Vergangenheit oder einer Zukunft vertiefen, um ihren eigenen Weg damit zu umstellen. Hätte ich diese Bilder nicht, würde ich beim nächsten Schritt in Angst erstarren oder gemeingefährlich um mich zu schlagen beginnen.

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Der Prozess des kulturellen Diskurses, wie ich ihn hier verstehe, hat eine erkenntniszentrierte – genauer: eine seherische – Perspektive (nicht eine ästhetische oder eine aufklärerisch-emanzipative): Es geht demnach bei diesem kulturellen Prozess darum, eine neue Sicht des Gewordenseins in das Medium einzubringen, mit dem man arbeitet.

Dieser Prozess ist nicht-teleologisch: Es geht nicht um eine in der Zukunft abschliessbare Bewegung, die der politische Diskurs zum Paradies auf Erden idealisiert, sondern um die Interpretation der Summe alles Wahrgenommenen (nicht alles Wahrnehmbaren – dies wäre der Anspruch der wissenschaftlichen Erkenntnistheorie). Teleologische Kunst als Widerspruch in sich selbst würde das spekulative Geschäft mit der Zukunft nachahmen, das die Politik betreibt. Sie wäre so viel wert wie eine in Verse gefasste Bundesverfassung oder ein gemaltes Kommunistisches Manifest.

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In dieser säkularen Perspektive ist Jesus nichts anderes gewesen als ein Kulturschaffender, wenn er gesagt hat, sein Reich sei nicht von dieser Welt.

[1] Dieter Haselbach/Pius Knüsel/Armin Klein/Stephan Opitz: Der Kulturinfarkt. Von allem zu viel und überall das Gleiche. München (Knaus) 2012, hier vor allem S. 171, wo Kultur in ihrer «Kompensationsfunktion für schwierige gesellschaftspolitische Diskurse» kritisiert wird.

[2] Nachdem ich den Text von Grass – «Was gesagt werden muss» – gelesen habe, muss ich doch immerhin auch sagen, dass er selbstverständlich Recht hat, auch wenn ihm Israel als Reaktion auf den Text lächerlicherweise verbietet, je wieder in Israel einreisen zu dürfen. Grass’ Text reduziert sich im politischen Gehalt auf eine einzige Aussage, die im Ernst kein Mensch bestreiten kann. Er spricht den Wunsch aus, «dass eine unbehinderte und permanente Kontrolle / des israelischen atomaren Potentials / und der iranischen Atomanlagen / durch eine internationale Instanz / von den Regierungen beider Länder zugelassen wird».

(6./13.4.2012, La Fornace; 22.+24.05.2018)

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