Jesus als Kulturschaffender

Im neuen Buch von Kurt Marti[1] lese ich über das «christlich-theologische Axiom» (Karl Barth) der Auferstehung Christi von den Toten. Ein Triumph sei das, sagt Marti, aber «überhaupt kein Triumphalismus»: «Seinen Anhängern erschien der Auferstandene auf staubigen Strassen oder in Jerusalemer Hinterzimmern [...]. Und vor allem: Kein Auftrumpfen gegenüber jenen, deren Intrigenspiel zur Kreuzigung geführt hatte. Auch über sie hat der Auferstandene sich konsequent ausgeschwiegen. Für ihn waren sie offenbar kein Thema mehr. Kein Triumph- oder gar Rachewort ist über seine Lippen gekommen.»

Mich fasziniert an dieser Passage nicht der theologische Aspekt, sondern der kulturelle: Was Marti beschreibt, ist eine radikale Abkehr vom Bisherigen, die erst die Idee eines Neuen ins Zentrum zu rücken vermag. Jesus wendet sich in Martis Darstellung endgültig ab von der sozialen Verstrickung mit den römischen Besatzern und dem jüdischen Establishment in Jerusalem. Und zwar ohne empört und enttäuscht mit ihm abzurechnen oder mit Emphase zu brechen. Weil sich diese soziale Verstrickung erledigt hat, ist sie nicht mehr der Rede wert, «kein Thema mehr». Das Engagement in der Vergangenheit wird nicht moralisierend zerredet. Es war damals notwendig, um die Verhältnisse, wie sie waren, zur erzählbaren Geschichte zu versprachlichen. Darüber hinaus braucht es kein Wort: Die aus den schliesslich tötenden Machtverhältnissen gewonnene Narrativität wird die Geschichte in die Zukunft transportieren und all jenen, die sie verstehen wollen, kenntlich machen.

Was Marti schildert, ist das Abwenden von der Geschichte, deren Protagonist Jesus war, hin zu einer neuen, von der im Moment auf den Strassen und in den Hinterzimmern von Jerusalem nicht viel mehr zu sagen ist, als dass es sie geben solle und dass man sie gemeinsam durchleben wolle. Es geht um den Aufbruch in eine neue Geschichte.

Dieser geschilderte Moment der Abkehr von der alten zu einer neuen Geschichte verstehe ich als kulturelle Wendung von einem abgeschlossenen kulturellen Prozess zu einem nächsten. In dieser Wendung steckt die utopische Kraft, die einen neuen kulturellen Impuls möglich macht. Das grosse Nein – das Bisherige soll nun «kein Thema mehr» sein – schlägt um in das grosse Ja, das Bisherige durch ein Neues ersetzen zu wollen. Diese kulturelle Wendung ermöglicht das Neue vorderhand einzig durch die Perspektive der grundsätzlichen Offenheit.

In Martis theologischer Argumentation bezeichnet diese Wendung wohl auch jene vom ersten zum zweiten Testament – die Abkehr von der jüdischen Tradition hin zu einer christlichen Zukunft. Das ist nicht mein Thema. Für mich ist die Idee der «kulturellen Wendung» aus einer säkularen Perspektive interessant: Auch sie kann beschrieben werden als Wendung vom Blick zurück zum Blick auf das unbekannte Neue. Und auch das Schweigen des Jesus in Martis Darstellung ist säkular gewendet wichtig: Praxis kann die «kulturelle Wendung» nur dann werden, wenn über das Bisherige nicht gerichtet wird, um es zu verwerfen, sondern wenn es als abgeschlossene Geschichte erzählt und als Erlittenes vergessen wird: In der Erzählung bleibt die Narrativität unverlierbarer Gewinn – als Prozess ist sie abgeschlossen. Kultur heisst demnach auch: Das zur Narrativität verfestigte Alte soll weder verleugnet noch verdrängt werden. Es bildet den Boden, auf dem das Neue stehen kann.

[1] Kurt Marti: Gott im Diesseits. Versuche zu verstehen. Stuttgart (Radius Verlag) 2005, S. 89f.

(28.12.2005; 20.10.2017; 26.06.2018)

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