Gegen das psychologische Argument

Gegen das «Stückwerk»-Projekt kann man psychologisierend argumentieren. Dieses explizit zelebrierte Umgehen der Verwertungskette Buch und der in ihrem Dienst stehenden Kanonisierungsinstanzen lassen zweifellos Rückschlüsse auf den Autor zu. Sagen kann man: Da spielt einer ausser Konkurrenz, weil er auf die Honorare aus Buchverkäufen und Lesungen nicht angewiesen ist, weil er Konkurrenz fürchtet, weil er sich der Auseinandersetzung mit der Kritik nicht stellen will, weil er seinen eigenen Argumenten zu wenig traut und fürchtet, schnell widerlegt zu sein, würde sich massgebende Kritik überhaupt die Mühe nehmen zu argumentieren.

Dagegen habe ich zu sagen: Zwar hat die Form der Realisierung des «Stückwerk»-Projekts zweifellos auch mit der psychologischen Seite meiner Person zu tun. Aber auch mit meiner Lebenserfahrung: Wer einen langen Weg gehen will (der Stückwerk-Weg begann um 1987), ist klugerweise mit leichtem Gepäck unterwegs und entscheidet sich – taucht ein Hindernis auf – mit Vorteil dazu, zu umgehen, statt zu überwinden. Denn in aller Regel ist der Umweg schneller gegangen, als auftauchende Blockaden auf dem kürzesten Weg überwunden sind.

Daneben kann die Psychologisierung meiner Person zwar ein Stück weit die Frage beantworten, warum ich den konventionellen Produktions- und Distributionskanal des Buches umgehe, nicht aber, warum ich im Einzelnen das Projekt so realisiere, wie ich es hier tue.

Gemäss meiner frühen Überzeugung, an der sich nichts geändert hat, bestehen Kunstwerke nicht nur aus Form und Inhalt; in jedem Fall ist auch der Rahmen, in dem sich ein Kunstwerk der Rezeption darbietet, Teil seiner Ästhetik. Die Wahl des Internets als Trägermedium ist demnach integraler Bestandteil der Stückwerk-Ästhetik. Zurzeit beschäftigen mich vor allem zwei Aspekte:

• Vorteile der Online-Publikation. – a) Die Online-Publikation ermöglicht ohne Kostenfolge (wie es beim Buchdruck der Fall wäre) die ungekürzte Präsentation und beliebige Erweiterung der Texte. b) Durch die Möglichkeit zur Verlinkung, durch den Zufallsgenerator «Zu irgendeinem Werkstück» und dank der Internet-Konditionierung zur nichtlinearen Rezeption (zum Hin-und-her-Klicken statt zum meist linearen Blättern) wird der gesuchte Schein einer flächigen Textanordnung erzeugt. c) Die Online-Publikation garantiert die Unabschliessbarkeit des Projekts durch die Möglichkeit, die Arbeit später jederzeit präzisierend oder ergänzend weiterführen zu können. d) Ich kann – was für mich wichtig ist – dieses Projekt realisieren, ohne mich zum vornherein als Pausenclown der Kulturindustrie in irgendeiner Weise für irgendetwas verpflichten zu müssen.

• Das Problem des Internets. – Klar ist, dass die Online-Veröffentlichung hier und heute eine gleicherweise chancen- und risikoreiche Publikationsmöglichkeit ist – nicht nur, weil ich als Machtloser eine Herrschaftstechnologie benütze. Klar ist auch, dass weder Chancen noch Risiken des Internets bisher weder theoretisch ausreichend beschrieben noch praktisch abschliessend ausgelotet sind. Was die Onlinepublikation als ästhetisch integraler Rahmen für das «Stückwerk» als Kunstprodukt bedeutet, kann ich deshalb heute nur sehr ungefähr wissen. Zukünftige Kritik wird mehr und anderes in den Blick nehmen können, als ich heute zu sehen vermag.

Aber auch wenn sich das Internet als literarischer Publikationskanal später als Irrweg oder als Sackgasse erweisen würde, ist es für mich aus heutiger Sicht vernünftig, «einisch z’luege / wohi dass me chiem / we me ging» (Kurt Marti). Dass gerade ich ein solches Experiment mache, mag man psychologisieren. Aber dass jemand jetzt ein Experiment macht, das entschieden über die Reihung von Blog-Beiträgen oder linear gedachter Narration hinausgeht, ist notwendig genug, um gewagt zu werden.

(05./07.08.2017; 03+04.04.2018)

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