Das richtige falsche Argument

Obschon die Idee des Konvoluts – die nicht warenförmige Distribution von Geschriebenem – ökonomisch mit Leichtigkeit zu widerlegen ist (das Konvolut ist ja wirklich unbestreitbar eine Ware), ist sie doch mehr als lediglich falsch. Zwar widerlegt das Konvolut die Tatsache, dass in dieser Welt «der ungeheuren warensammlung kein ding ‘öffentlich’ sein» kann, «das sich dem joch der warenförmigkeit nicht unterworfen hat»[1], nur scheinbar und ist deshalb eigentlich ein falsches Argument. Aber – in der Welt, wie sie hier und heute ist – gibt es kein richtiges. Ich meine: Es ist nicht unehrenhaft, in einer als falsch erkannten Welt mit falschen Argumenten den Schein von etwas hervorzurufen, das man als richtig erkannt hat.

Mit dem Untergang des realexistierenden Sozialismus wird Warenform wieder flächendeckend zum Mythos. Warenförmigkeit wird zum Nichthinterfragbaren. Mir bleibt deshalb, entweder mich der Warenförmigkeit zu unterziehen (und von jetzt an Gedichtbücher zu machen), oder aber etwas im Rahmen der herrschenden Rationalität Falsches zu behaupten. Das Entscheidende am Konvolut: Es postuliert ein Gegenargument, und zwar ein uneinsichtig trotziges, das sagt: Wenn mich auch die ganze Welt ins Unrecht versetzt, so tue ich doch so, als hätte ich recht. Und insofern es mir gelingt, den Schein zu erwecken, als hätte ich recht, insofern gelingt es mir, den Schein zu erwecken, die Welt sei ins Unrecht versetzt. So erschiene die falsche Welt für einen Augenblick tatsächlich als falsche.

Dieser Schein ist ein «künstlicher Mythos».[2] Er eröffnet einen kritischen Blick auf das nicht hinterfragbare Naturgegebene. Dieses wird entlarvt als der hegemoniale Diskurs, der ein geschichtlich Gewordenes – die hier und heute alles dominierende Warenform – als unhinterfragbar Naturgegebenes erscheinen lässt. Was aber als geschichtlich Gewordenes erkannt ist, wird (zumindest theoretisch) politisch veränderbar. Darum ist das Konvolut ein falsches Argument, das mehr wert ist als tausend richtige, die die Ware als unhinterfragbar voraussetzen.

[1] fl.: Konvolut: «zum geleit», S. 5.

[2] Roland Barthes: Mythen des Alltags. Frankfurt am Main (suhrkamp) 1964, S. 121. – An anderer Stelle im «Stückwerk» setze ich mich mit dem «Kunstwerk Nein» des Kulturboykotts als künstlichem Mythos auseinander (vgl. «Das verschmähte ‘Kunstwerk Nein’», Abschnitte 3 und 4).

(04.02.1991, 20.03.1998; 19.03.+03.04.2018)

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