Von der Antiquiertheit der Autonomie

Das Kunstschaffen sei heute der unwichtigste und also uninteressanteste Teil der Kultur, habe ich als Provokation letzthin im Gespräch behauptet. Ab und zu fällt einem ein richtiger Gedanke zu, der so tief ist, dass einem seine Gründe (noch) nicht einsichtig sind.

Einer dieser Gründe: Der Preis, den die Moderne für die sogenannte Autonomie des Kunstschaffens bezahlt hat, ist zu gross gewesen: Kunst, abgekoppelt von der sozialen, also auch der wirtschaftlichen Welt, die sie trägt und die zu spiegeln sie nur noch vorgibt, ist sich selbst genug. Sie wird selbstreferentiell und deshalb für die Gesellschaft bedeutungslos.

(September 1995; 4.4.1996; 21.11.2017)

 

Nachtrag 1

Richtig. Richtig ist aber auch: Das Autonomie-Konzept moderner Kunst wurde im 20. Jahrhundert nicht zuletzt in Auseinandersetzung mit rechtem und linkem Totalitarismus weiterentwickelt und meinte in einer Haltung der Notwehr vor allem anderen: Kunst darf sich nicht in Dienst nehmen lassen von institutionalisierter politischer Unmenschlichkeit.

Nach dem Niedergang von Faschismus respektive Nationalsozialismus und Bolschwismus, die in Europa die Kunst tatsächlich instrumentalisiert haben, ist die Autonomie allerdings zunehmend zum Vorwand geworden für die Verteidigung kleingewerblicher Selbständigkeit: Man will tun können, was man will und man hat den Anspruch, davon leben zu können. Die Autonomie ist janusköpfig geworden: Von vorn strahlt einem das Antlitz der schrankenlosen künstlerischen Freiheit entgegen, die Rückseite zeigt das Knechtsgesicht, das nach privater und staatlicher Unterstützung giert.

Kunst erlangt dort eine neue Bedeutung, wo sie Autonomie nicht mehr als unverhandelbare Voraussetzung für ihr Entstehen vorschiebt, sondern sie verteidigt, um sie für jene aufgeben zu können, für die sie sprechen will.

Selbstverständlich gibt es zu jeder Zeit Kunst, die in diesem Sinn interessant ist.

(12.12.2005; 14., 16.+21.11.2017; 04.07.2018)

 

Nachtrag 2

 

 

Dass «autonome» Kunst um 1990 an ihre Grenzen gekommen sei, vermutete ich in einem Aufsatz, der 2001 in der «Roten Revue» erschienen ist[1]:

«[…] In der Kultur, die sich [seit den 1950er Jahren] entfaltet hat, sollten Erziehungsformen ‘antiautoritär’, Diskurse ‘herrschaftsfrei’ und Kunstwerke so gut wie kollektive Lebensgemeinschaften ‘autonom’ sein. ‘Subkultur’, ‘Gegenkultur’ und ‘Alternativkultur’ […] sind Teile einer gegen die radikalisierte ‘affirmative Kultur’ gerichteten ‘autonomen Kultur’.

[Ich vermute], dass die ‘Kultur der Autonomie’ um 1990 an ihre Grenzen gekommen ist. Vollständige Autonomie hiesse ja nichts anderes als ‘vollständige Desintegration’, die, so Rolf Schwendter, ‘nur um den Preis einer Isolation’ möglich wäre, ‘die eine Wirkung zur grundsätzlichen Veränderung der Gesamtgesellschaft so gut wie unmöglich macht’. Die ‘Kultur der Autonomie’ stirbt in letzter Konsequenz den ‘kommunikativen Tod’ (Ferruccio Rossi-Landi).

Kaum drei Wochen vor seinem Tod schrieb Max Frisch im Zusammenhang mit dem sogenannten ‘Kulturboykott’ an den damaligen Delegierten für die eidgenössische 700-Jahr-Feier, Marco Solari, die Schweiz sei ein ‘verluderter Staat – und was mich mit diesem Staat heute noch verbindet: ein Reisepass (den ich nicht mehr brauchen werde)’. Das war – im März 1991 – die endgültige Absage der ‘Kultur der Autonomie’ an die Schweiz.

Wenn die ‘Kultur der Autonomie’ als Befreiungsversuch von der hagiolatrischen Umklammerung zu deuten wäre, wie dann die seither entstandene?

Seit 1945 war es eine ausgemachte Sache, dass nur zu mehr Autonomie führende kulturelle Impulse emanzipative seien. Wer das heute noch behaupten wollte, müsste auch erklären können, was an sozialer Desintegration bis hin zum «kommunikativem Tod» emanzipativ sein soll. Diese Frage interessiert die heute jungen Kulturschaffenden nicht: Sie beginnen zu arbeiten und tun, was sie interessiert. Abzuzeichnen beginnt sich so ein neuerlicher Perspektivenwechsel: Kultur scheint sich wieder vermehrt auf die Suche zu machen nach einer irgendwie gearteten Gemeinschaftlichkeit: Bürgerschreckende Konfrontation wird zusehens überlagert von mehrfach konnotierter Kommunikation, die sich darum bemüht, von verschiedenen Positionen her irgendwie verstanden werden zu können. Für dieses Ideal der Gemeinschaftlichkeit stehen aber nicht mehr Begriffe wie ‘Volk’ und ‘Vaterland’, sondern zum Beispiel die demokratische, diskutierende und partizipierende Bürgergesellschaft, die unter dem Begriff der ‘Zivilgesellschaft’ verstanden wird. In ihr braucht es keinen antagonistisch gespaltenen Kulturbetrieb mehr, der als ‘bürgerlicher’ jene ‘Affirmativität’ produziert, die er als ‘alternativer’ demonstrativ verweigert. Zivilgesellschaftliche Kultur möchte eine sein des gemeinschaftlichen vernunftbegabten Gutmeinens. […]»

[1] Die Kultur der Autonomie. Und danach?, in: Rote Revue, Nr. 2/2001.

(2001; 12.12.2017)

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