Am Rande eines Jubiläums[1]. Ein Thesenspiel

1.

Über Kunst reden. – Wenn ich zum Beispiel über die Kunsthalle Bern schreiben will, dann muss ich nicht gesehen haben, was darin ausgestellt wird; ich muss gelesen haben, was über das Ausgestellte geschrieben wird.

2.

Anything goes? – Die Kunst der Postmoderne zeigt dort, wo sich die persönliche Stellungnahme denken liesse ein Nichts, genauer ein leeres Loch (eine totale Unpersönlichkeit); jedoch zeigt sie ansonsten ein Universum, eine an Phänomenen übervolle Welt (eine unpersönliche Totalität). Das meint wohl «Anything goes»: Alles geht – nichts bleibt.

3.

Therapeutische Kunst. – Merkwürdig: In der Summe der Werke stellt sich der Eindruck einer Totalität ein. Jedoch, das Einzelne fokussierend, bleibt dieses stumm (vielleicht hermetisch redend, vielleicht hermetische Rede bloss simulierend). So wird die Sinnproduktion bei der Kunstbetrachtung ausschliesslich zum Problem der Rezeption. Kunst betrachtend sehe ich wie im Spiegel nichts als mich selbst. Im Werk – umgekehrt – zeigt sich nichts als das, was ich hineinprojiziere: meinen Sinn. Kunst als Katalysator, der die individuelle Sinnproduktion stimulieren soll. Erkennst du beim Betrachten solcher Kunst keinen Sinn, hast du ein Problem, nicht die Kunst. Sinnlosigkeitsgefühle können auf depressive Verstimmungen hinweisen. Lass dir helfen.

4.

Sinn. – Das additive Nebeneinander von Wahrgenommenem ergibt eine Summe, die mit kurzer Halbwertszeit im Bewusstsein spurlos verschwindet. Alle Operationen höherer Ordnung, die erinnerndes Denken produzieren, arbeiten dagegen in irgendeiner Weise mit dem Faktor Sinn.

5.

Grenze des Kommunizierbaren. – Kunst: Etwas sagen, ohne etwas von sich preiszugeben. Etwas zu sagen und damit etwas von sich preisgeben zu wollen, wäre immer schon suspekt. Solche Versuche gelten von Jahr zu Jahr mehr als unausgegoren, moralisch, missionarisch, politisch, ideologisch, dilettantisch, unreif, dumm. Darum wird das möglichst vollmundige Reden, ohne etwas (über sich) zu sagen, zur immer elaborierteren Kunstfertigkeit der Kunst.

6.

Die Irrationalisierung des ästhetischen Diskurses. – Was die Postmoderne auch bei jenen, die die Verbindlichkeiten der Moderne zu retten versuchen, durchgesetzt hat, ist die Irrationalisierung des ästhetischen Diskurses. Die Postmoderne hat die Kriterien und Parameter zersetzt, mit denen von der materialen Substanz her das ästhetische Phänomen gefasst werden kann. Auch aus einer kritischen Position wird heute immer häufiger gesagt: Die aktuelle Musik, die aktuelle Kunst, die aktuelle Literatur lasse sich nicht über Bücherwissen, über theoretische Auseinandersetzung begreifen, sondern könne nur in der direkten Auseinandersetzung mit dem konkreten Phänomen begriffen – das heisst: erlebt, gespürt und so verstanden – werden.

Heute ereignet sich das ästhetische Phänomen zunehmend als Initiation. Eine gesamtgesellschaftlich vermittelnde Sprache, um über dieses Phänomen zu reden, erübrigt sich: Das Gespräch zwischen Initiierten und Nicht-Initiierten ist nicht mehr vorgesehen.[2] Unter Nicht-Initiierten bleibt jede aktuelle künstlerische Äusserung deshalb grundsätzlich unverstanden, wird ignoriert oder sprachlos bestaunt. Unter den Initiierten jedoch tut man so, als sei der ästhetische Diskurs bereits abschliessend geführt worden. Man zwinkert sich unter Sektenbrüdern zu – und weil die Sektenschwestern seit einigen Jahren auch zwinkern dürfen, ist man sich seiner avantgardistischen Bedeutung sicher.

Es genügt, um «in» zu sein, mit ausserästhetischen Kennmarken zu jonglieren, vor allem mit Namen. Fallen Stichwörter wie «Baselitz» oder «documenta», «Szeemann» oder «New York», so ist klar genug, was gemeint ist. An kunstsoziologisch relevante Termini sind implizit ästhetische Felder gehängt, um deren Verbalisierung sich nur noch jene bemühen müssten, die nicht dazu gehören. Der ästhetische Diskurs funktioniert, gerade weil man sich bloss noch einbildet zu wissen, was andere meinen, ohne es zu sagen. Dieses Kennmarkengerede hat zur Metaphorisierung, Hermetisierung und Irrationalisierung des ästhetischen Diskurses geführt und hat Einfluss auf das Selbstverständnis der Kunstschaffenden. Kritik an der eigenen Arbeit gerät aus dem Blickfeld, weil sie nicht mehr gefragt, nicht mehr vermittelbar ist. In öffentlichen Äusserungen genügen gesinnungsästhetische Leerformeln, die signalisieren, dass man auf der richtigen Seite – jener der Initiierten – steht.

Im Rahmen der Feierlichkeiten zum 75-Jahr-Jubiläum der Kunsthalle projizierte Harald Szeemann zum Beispiel unter dem Titel «From ATT to G. A. S.»[3] Lichtbilder über seine Ausstellungen seit 1969: Fast bei jedem Bild betete er eine Namensliste der an den Ausstellungen teilnehmenden KünstlerInnen herunter; die werkimmanenten Hinweise blieben dagegen marginal. Ich erhielt den Eindruck, Szeemann sei vor allem stolz darauf, jederzeit genau gewusst zu haben, wen er ausstelle, weniger wichtig sei ihm das Was gewesen.

7.

Eine neue Sprache? – Es ist zu billig, nicht mehr über Kunst zu reden, nur weil die Sprache dafür nicht mehr taugen will. Die Frage lautet: Ist ein ästhetischer Diskurs nach dem Zerfall der Parameter noch möglich? Wenn nein: Waren die zerfallenen Parameter die einzig denkbaren oder ist es möglich, dass aus einem Paradigmenwechsel eine neue Ästhetik wachsen könnte? (Zum Beispiel durch Fokussierung des gesellschaftlichen Orts des Werks in Bezug auf Produktion, Distribution und Rezeption – mit anderen Worten durch Einbezug des Rahmens, in dem Kunstwerke entstehen und veröffentlicht werden?)

[1] Mit 75 «Aufscheinungen» hat die «Berner Kunsthalle» zwischen dem 20. August und dem 10. September 1993 ihr 75jähriges Bestehen gefeiert. Die Notizen dieses Werkstücks entstanden am Rand einer grösseren journalistischen Arbeit, die ich damals für die WoZ schrieb.

[2] «‘Ohne eine gewisse Vorbildung steht der Durchschnittsmensch der zeitgenössischen Kunst meist hilflos gegenüber. Doch warum sollte das in der Kunst anders sein als in anderen Gebieten?’, fragt Bernhard Bürgi [Direktor der Zürcher Kunsthalle, fl.]. ‘Wenn Sie neue Forschungsresultate in der Mathematik verstehen wollen, geht das auch nicht ohne Kenntnis von grundlegenden Rechenfunktionen.’» (Cash, 12.02.1992) Bloss: Warum wundert sich dann noch jemand, dass Kunst nur noch jene interessieren kann, die diese Rechenfunktionen studiert haben und alle anderen tatsächlich nichts mehr angeht?

[3] Für Nicht-Initiierte: Von der Ausstellung «When Attitudes become Form» in der Kunsthalle Bern (Frühling 1969) bis zur Ausstellung «G.A.S.» im Musée d’art contemporain de Bordeaux im Frühling 1993.

(20., 23., 29., 30.08.1993; 18.12.2001; 21.11.2017; 04.07.2018)

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