Zivilisation und Ich-Fragment

Verstehe ich den fortschreitenden Zivilisationsprozess mit Norbert Elias als «langfristige Transformationen der Persönlichkeitsstrukturen»[1], so dauert er seit der Entstehung des menschlichen Bewusstseins, seit dem «Reflexivwerden der Instinkte»]2] an. Seit damals wird dieser Prozess vom Subjekt tendenziell als fortschreitende Atomisierung des sozialen Universums und als Fragmentierung und Vernichtung von Anteilen des jeweiligen Eigenen, des Ichs erfahren. Der Zivilisationsprozess wird von den Einzelnen bezahlt mit immer neuen Seinsdefiziten und lässt sich als Kreislauf beschreiben: Der Zivilisationsprozess führt zu Seinsdefiziten, diese zu Sehnsüchten, diese zu Bedürfnissen, zu deren Befriedigung institutionelle Herrschaftsapparate nötig werden, die durch ihren Auf- und Ausbau den Zivilisationsprozess weiterbringen, was zu weiteren Seinsdefiziten führt.

Das jeweils bis anhin Menschliche wird vom Menschen Stück für Stück abgespalten und in Sehnsüchte und Bedürfnisse entfremdet. Die Zivilisierung des Menschen besteht darin, dass er lebenslänglich nach der Wiedererlangung der enteigneten Anteile seines Selbst trachtet (je «fortschrittlicher» der soziale Wandel, desto «rückschrittlicher» die Bedürftigkeit des Menschen).

Im Einzelnen sehe ich folgende Enteignungskreisläufe:

• Erkenntnis-Defizit: Das Reflexivwerden der Erkenntnismöglichkeiten führt zu ihrer Kritik und damit zum Bedürfnis nach dem Ausserhalb-(Jenseits-)liegenden: der Metaphysik; diesem Bedürfnis entspricht das Herrschaftsinstrument der Kirchen. So gesehen bedeutet Aufklärung immer auch, diesem Bedürfnis zu widerstehen.

• Lebenswelt-Defizit: Zunehmend entfremdete Arbeitswelt und zunehmende Anonymisierung  des Alltags führen zum eskapistischen Bedürfnis nach Kultur als Gegenwelt, dieses zum Herrschaftsinstrument der delegierten Kulturproduktion, heutzutage zur Kulturindustrie.

• Integrations-Defizit: Die Erfahrung sich stets erneuernder Entfremdung und Entwurzelung führt zu physischer und psychischer Desintegration. Insofern diese Erfahrung zu «Krankheit» im weitesten Sinn und zum Bedürfnis nach «Heilung» führt, stehen zur Therapie die Herrschaftsinstrumente von Medizin- und Pharmaindustrie zur Verfügung. Insofern diese Desintegration zu sozialer Auffälligkeit und Widerständigkeit führt, stehen die Instrumente der staatlichen Ordnungsmacht zur Verfügung.

• Perfektions-Defizit: Die «prometheische Scham»[3] als das umfassende Gefühl der Minderwertigkeit des Menschlichen fördert das Bedürfnis nach gemachter statt gewordener Perfektion und verlangt zunehmend eine atom-, gen- und neurotechnologische condition transhumaine – also ein Netzwerk neuer Herrschaftsapparate.[4]

Diese Enteignungskreisläufe, die das Ich laufend noch mehr fragmentieren, bilden in der Summe die dunkle Seite des Zivilisationsprozesses.

[1] Norbert Elias: Über den Prozess der Zivilisation, Band 1. Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1990, S. VIII.

[2] Christoph Türke: Der tolle Mensch. Nietzsche und der Wahnsinn der Vernunft. Frankfurt am Main (Fischer), 1989, S. 44 (Fussnote 40).

[3] Günther Anders: Die Antiquiertheit des Menschen, Bd. 1. München [Beck Verlag] 1987, S. 23.

[4] Eduard Käser: Der Körper im Zeitalter seiner Entbehrlichkeit. Wien (Passagen Verlag) 2008, S. 57.

(April, 03.06.1990; 29.09.1997, 29.12.2008; 30.10.2017)

 

Nachtrag

Gut, es gibt eine dunkle Seite des Zivilisationsprozesses. Aber was wäre die Alternative? Herrschaftsapparate, die den beherrschten Menschen das Sich-Suhlen in ihrer Tierheit garantieren sollen?

Vielleicht ist es ja ganz anders: Angenommen, Zivilisation wäre mehr und anderes als der technologische Fortschritt und die dazugehörenden Distinktionsrituale, in denen sich die Erfolgreichen zu allen Zeiten das nicht allen Zugängliche und Verstehbare als Kultur an den Hut gesteckt haben; angenommen, Zivilisation hätte auch mit dem menschlichen Massstab, mit Empathie und Solidarität zu tun: Wäre in diesem Fall der Diskurs vom Zivilisationsprozess nicht zu fragen, woraus genau geschlossen werden soll, dass die Menschen – sagen wir vor 10'000 Jahren – weniger «zivilisiert» waren als wir Heutigen? Weil das Blut noch spritzte, wenn man sich prügelte? Aber spritzt das Blut heute nicht auch, wenn die Drohne des Imperiums einschlägt – samt jenem der vielen Kollateralschäden, weil die zivilisiertere Waffe einfach unpräziser trifft als die Keule eines Höhlenbewohners?

(30.10.2017; 27.06.2018)

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