Nicht jeder kritische Journalismus ist politisch

Pierre Bourdieu spannt den Raum der sozialen Positionen und Lebenstile auf mit zwei senkrecht aufeinander bezogenen Achsen: die vertikale Achse ist die des ökonomischen Kapitalvolumens, das von unten nach oben zunimmt, die horizontale Achse ist jene, die zwischen viel kulturellem Kapital (links) zu viel ökonomischen Kapital (rechts) führt (und vice versa). In diesem Raum verordet Bourdieu die gesellschaftliche Position der Menschen (nach Berufsgruppen) und deren Affinität zu sozialen Verhaltensweisen und zu kulturellen Phänomenen und Produkten.[1]

Auf diesen Raum bezogen kann ich sagen, dass jede journalistische Arbeit zwischen zwei verschiedenen Bereichen dieses Sozialraums vermittelt. Meine These, die ich diese Woche notiert habe: «Es gibt Journalismus, der in der Gesellschaft horizontal [resp. in Bourdieus Terminologie «transversal», fl.] und solcher der vertikal vermittelt. Nur letzterer ist politisch – ob er es von oben nach unten oder von unten nach oben tut.»

Tatsächlich ist es so, dass kein Journalist und keine Journalistin von sich freiwillig sagen wird: «Ich mache unkritischen Journalismus.» Das mag im Einzelfall dahingestellt bleiben. Sicher ist: Nicht jeder kritische Journalismus ist politisch. Journalismus, der sich bemüht, tendenziell in horizontaler Richtung zu vermitteln, kann zwar kritisch sein, ist deswegen aber noch nicht politisch; Journalismus, der sich bemüht, in vertikaler Richtung zu vermitteln, ist noch dann politisch, wenn er unkritisch ((im anwaltschaftlichen oder verlautbaren Sinn) berichtet.

Der Trick des heute als professionell geltenden Journalismus ist der, dass nur die horizontale Vermittlung als «objektiv» gilt. Dessen auf der horizontalen Achse vorgetragene Kritik meint Ausdifferenzierung der tatsächlich bestehenden Interessenlagen von Inhabern verschiedener Kapitalsorten bei vergleichbar grossem Kapitalbesitz. Die Differenzierung hat in jedem Fall in den Kindervers liberaler Unverbindlichkeit zu münden, Meinungsvielfalt zeuge von lebendiger Demokratie und im übrigen gebe es verschiedenen Wege glücklich zu werden. Der Rest aber (das wird nicht gesagt, aber gemeint) sei Privatsache und harte sozialdarwinistische Wirklichkeit.

Diese Ausdifferenzierungsarbeit gilt als kritisch und objektiv. Darum ist im Auge zu behalten, dass die Botschaften, die der grösste Teil der Medien aussendet, gleichzeitig kritisch wirken und unpolitisch sind.

[1] Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1986, S. 212f.

(28./30.10.2011; 05.09.2017; 08.06.2018)

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