Kultur ist nicht Feuilleton

Obschon ich eigentlich zum Schreiben des Buches «Muellers Weg ins Paradies» unbezahlten Urlaub angekündigt hatte, machte ich vom 15. Oktober bis Ende 1998 eine Stellvertretung auf der damals kriselnden Kultur-Redaktion der WoZ in Zürich. Zuhanden des Redaktionsausschusses verfasste ich in diesen Wochen einen «Bericht des Stellvertreters», in dem ich auf verschiedene damals aktuelle Probleme hinwies. Eines davon betraf das grassierende SpezialistInnentum im Ressort, das das Gärtchendenken und die starke redaktionelle Gewichtung jener Kulturphänomene förderte, die ich heute als eskapistische bezeichnen würde. Dagegen entwickelte ich im Papier die Idee einer Kultur-Berichterstattung, die dem «Primat des Hier und Jetzt» verpflichtet und etwas Anderes sein sollte als Feuilleton. In diesem Ausschnitt des Berichts spiegeln sich auch Ergebnisse meiner damaligen NONkONFORM-Recherchen.

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Darum mache ich hier einen Vorschlag, der das Resultat ist meiner bisherigen Auseinandersetzung mit Phänomenen der Subkultur und – kurz gesagt – die Analyse von Kultur nicht auf der Ebene der Produkte oder der Ebene der Personen, sondern auf der Ebene der Prozesse einsetzen lässt. These: Produkte sind lediglich individuell gestaltete Verfestigungen innerhalb weiterreichender und weiterlaufender kultureller Prozesse.

Kulturpublizistisch ergiebig wäre – denke ich – als zentrales Kriterium das Primat des Hier und Jetzt. Das heisst: Kulturelle und künstlerische Phänomene kommen tendenziell umso eher in die Zeitung, je stärker dieses Primat erfüllt ist.

• Das Primat des Jetzt bietet lösbare Schwierigkeiten. Es ist die Frage nach der Aktualität. Immerhin müsste hier geklärt werden, was eine Aktualität sei. Zurzeit gibt es nur ausnahmsweise andere Aktualitäten als die Lancierung eines neuen Produkts auf dem Markt. Das ist, mit Blick auf Geschichte und politische Ausrichtung der WoZ – ich vermute: nicht nur für mich – ein Ärgernis. Immerhin ist erklärbar, warum das so ist: Weil die vier Ressort-SpezialistInnen die Warenwelt der Bereiche Film, Literatur, Musik und Theater zu Königsdisziplinen erhoben haben. Die starke Gewichtung dieser Disziplinen ist unbefriedigend – aber nicht gottgewollt.

• Mehr Probleme bietet das Primat des Hier: Ist denn der Vorsatz nicht indiskutabel provinziell, das, was kulturell hier entsteht oder in Diskussion kommt, noch dann vor allem anderen kritisch zu begleiten, wenn seine Marginalität oder Mittelmässigkeit im Vergleich zum Output der internationalen Kulturindustrie unbestreitbar ist? Dies müsste diskutiert werden. – Ich meine: Nein, im Gegenteil. Provinziell ist die unkritische, opportunistische Weltläufigkeit, mit der in Feuilletons heute allgemein das scheinbar Bedeutende aus aller Welt in den Vordergrund geschoben wird: ein Film aus Kirgisistan, ein Roman aus Chile, Musik aus Zimbabwe, Theater aus Japan; dazu irgendwelche interkontinentale Jet-Set-KünstlerInnen, die alles mit allem zu etwas noch Bedeutenderem zusammenleimen.

Ohne Ironie meine ich, dass ein grosser Teil des Feuilletonjournalismus heute eine Art eskapistischer Snobismus ist: hysterische Bedeutungsschwangerschaften, die zu nichts führen, weil kulturelle Phänomene, die nicht auf ihre ästhetischen, gesellschaftlichen und historischen Voraussetzungen zurückgeführt werden können, für die Rezipierenden nicht «lesbar» sind (wobei selbstverständlich auch AnalphabetInnen ein Buch durchblättern und etwas dazu sagen können – peinlich wird es erst, wenn dieses Niveau der Rezeption als Kritik öffentlich wird).

Umgekehrt: Die einzigen Werke, die in ihren ästhetischen, gesellschaftlichen und historischen Voraussetzungen beurteilt werden können sind jene, die im Hier und Jetzt entstehen. Das Hier ist der Raum, in dem sich nicht nur die Redaktion, sondern auch der grösste Teil des Zeitungspublikums bewegt. Kritik von kulturellen Phänomenen hier ist demnach die Beurteilung von (individuellen) Spiegelungen «unserer» kollektiven Wirklichkeit. Es gibt keine andere Kulturkritik, die diesen Namen verdienen würde (kirgisische Filme können in ihrer spezifischen Komplexität letztlich nur von KritikerInnen beurteilt werden, die in Kirgisistan leben).

Nun sind die kulturellen Phänomene, die das Hier und Jetzt zu bieten hat, zugegebenermassen im Durchschnitt weniger spektakulär als die kulturindustriell konfektionierten Spitzenprodukte von der Stange. Das heisst aber noch nicht viel, sondern lediglich: Es braucht mehr intellektuelle Anstrengung, die Phänomene des Hier und Jetzt in einer spannenden Weise fragwürdig zu machen. An diesem Punkt beginnt die Arbeit der Kulturredaktion:

• Entwicklung von Fragestellungen ausgehend von Phänomenen, die das Publikum dieser Zeitung (wenn vielleicht auch nicht die PR-Abteilungen der Kulturfabriken oder das bürgerliche Feuilleton) beschäftigen;

• Entwicklung von Fragestellungen quer zu den einzelnen Phänomenen und Sparten;

• Entwicklung von Fragestellungen, die kulturelle Phänomene aus gesamtgesellschaftlicher Perspektive spiegeln etc.

Natürlich würde in zweiter Linie die Kultur des Dort und des Irgendwann (z. B. der Film aus Kirgisistan) auch abgebildet, aber eben bezogen auf Diskussionen, die von der Kultur des Hier und Jetzt ausgehen.

Es ist klar, dass es zu einer solchen Redaktionsarbeit nicht Kunstsparten-SpezialistInnen braucht, die sich hinter ihrem SpezialistInnenwissen verschanzen. Es braucht GeneralistInnen, die sich in intensivem Diskussionszusammenhang um die komplexen kulturellen Prozesse bemühen, die in Brüchen, zeitlichen und örtlichen Verschiebungen, in Verzerrungen und Transformationen die Entwicklungen auf anderen Feldern der Gesamtgesellschaft (Politik, Ökonomie) spiegeln.

Ich bestreite nicht, dass diese GeneralistInnen über ein gewisses Spezialwissen verfügen müssen, das sie in die Diskussionen einbringen. Aber sie müssen fähig sein, im Gespräch zu jedem Thema Fragestellungen mitzuentwickeln. Sie müssen mit Hilfe der anderen fähig sein, in der Entwicklung einer These, in der Schilderung eines kulturellen Prozesses etc. von einer Sparte zur anderen springend den Faden weiterzuspinnen. Sie sind nicht auf irgendetwas spezialisiert, sondern sie sind JournalistInnen, das heisst: Vermittlungsprofis. Und zwar gegen aussen und gegen innen: Sie müssen vor allem andern fähig sein, eigene Themenvorschläge zu entwickeln und in der Redaktionssitzung so zu vermitteln, dass die anderen neugierig werden und von ihrer Seite her mitzudenken und mitzudiskutieren beginnen. Sie müssen fertige Texte redaktionell so aufbereiten können, dass dieser vermittelnde Funke auch bei der Präsentation des Textes in der Zeitung springt. Dieser Funke wird als Verbindlichkeit des Textes wahrgenommen werden.

Klar sein muss umgekehrt, dass ich nicht einem munteren Jekami, einem Alle-machen-alles oder Alle-wissen-alles-besser das Wort rede. Ich sage bloss: Zur Herausarbeitung interessanter Fragestellungen im Rahmen konzeptioneller Leitplanken ist die kollektive Anstrengung eine Chance.

Ich gehe davon aus, dass die jetzigen Königsdisziplinen Film, Literatur, Musik und Theater keine sind, sondern eine ziemlich beliebige Bevorzugung einzelner Kunstäusserungen (das WoZ-Ressort aber heisst, vielleicht müsste man das auch wieder einmal reflektieren, weder ‘Feuilleton’ noch ‘Kunst’, sondern ‘Kultur’). Es wären ganz andere Königsdisziplinen denkbar. Zum Beispiel:

a) ‘Öffentlichkeit’ (im kulturellen, soziologischen, politischen und wirtschaftlichen Sinn; Kunst im öffentlichen Raum; Architektur und Städtebau; Werbung und PR etc.);

b) ‘Multikultur’ (eine Million Menschen in diesem Land kommt aus dem Ausland: kulturelle Prägungen und Zusammenleben; Integration vs. Marginalisierung; Identität vs. Fremde etc.)

c) ‘Kulturräume’ (Kulturräume als Repräsentanzen des Hegemoniekampfs verschiedener Kulturen vom Technoschuppen bis zum Opernhaus; Kulturräume und öffentliche Kulturförderung; Kulturräume und Sub- resp. Gegenkulturen etc.)

d) ‘Kulturphilosophie/-theorie’ (Was sind die grossen Fragen der Kultur? Was haben konkrete Phänomene mit solchen Fragen zu tun? Erklärungsmodelle aktueller Phänomene: Woher kommen sie, was bedeuten sie, worauf verweisen sie? etc.)

Es wären andere Königsdisziplinen denkbar. Wichtig scheint mir: Würden die jetzigen in ihrer Ausschliesslichkeit fallen, wäre es leichter, einen neuen Blick auf das Phänomen der Kultur zu entwickeln.

Weil ich davon ausgehe, dass das WoZ-‘Kultur’-Redaktionskonzept mit dem SpezialistInnentum an seine Grenzen gekommen ist, schlage ich demnach ein Modell vor, in dem RedaktorInnen zusammenarbeiten, die sich grundsätzlich als GeneralistInnen verstehen. Durch das Primat des Hier und Jetzt und durch den kontinuierlichen, innerredaktionellen Diskussionsprozess, der auch marginalen Phänomenen von Fall zu Fall durch kluge Fragestellungen zu Bedeutung verhilft, soll der zurzeit vorherrschende Eindruck der Beliebigkeit in der Berichterstattung überwunden werden. Das Publikum soll vermehrt dort abgeholt werden, wo es selber steht: Bei seiner eigenen Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit des Hier und Jetzt. Die unermesslichen Archive der Kulturen des Dort und des Irgendwann werden nur noch sekundär, zur Verdeutlichung resp. Relativierung primärer Phänomene beigezogen.

Diese Konzeptidee basiert auf der einfachen Einsicht, dass die bedeutendste Kultur nicht die ist, die von Shooting Stars der Kulturindustrie nach den Regeln irgendeiner saisonalen Avantgarde (die ein Jahr später niemand mehr kennt) produziert wird. Die bedeutendste Kultur ist jene, zu der man sich verhalten muss, weil man ihr nicht ausweichen kann, jene, die durch ihre Existenz die Struktur der eigenen Identität immer wieder neu befragt oder gar in Frage stellt. Das tat und tut überall auf der Welt vor allem anderen die Kultur des Hier und Jetzt.»

(01.12.1998; 11.09.2017; 06.06.2018)

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