Grossmutters letzte Geschichte

Samstagvormittag, die Mutter ruft an, der 94jährigen Grossmutter Lerch gehe es seit zwei Tagen plötzlich sehr schlecht, das Herz, zu befürchten sei das Schlimmste. Am Mittag fahre ich nach Roggwil; zusammen mit einem ebenfalls angereisten Bruder und den Eltern mache ich am Nachmittag einen Krankenbesuch in Grossmutters Haus im Bündtenacker. (Sie weigert sich, in das Spital zu gehen.) Jetzt sitzt sie in ihrem Zimmer in einem Stuhl neben dem Bett, begrüsst uns bei klarem Bewusstsein. Beim Sitzen geht das Atmen besser, auch ist nun ein Teil des Wassers in den Beinen und auf der Brust weg. Sie hat Durst, trinkt Rivella und Tee. Mitten Im Gespräch beginnt sie – die nie viel gesagt hat – eine Geschichte zu erzählen.

Ob es in Wirklichkeit so gewesen sei, könne sie nicht sagen. Ein Traum? Ja, vielleicht ein Traum, sagt sie. Dann: In der letzten Nacht sei sie an einem Fest gewesen bei einer schönen, noblen Frau. Sie hätten geredet die ganze Nacht bis morgens um fünf. Dabei hätte sie eigentlich nach Hause gemusst, weil ihre Mutter doch auf sie gewartet habe. Aber es sei so schön gewesen, dass sie geblieben sei. Die noble Frau habe sich dann mit anderen, die auch am Fest gewesen seien, auf eine Reise begeben. Sie jedoch sei wieder nach Hause. (In der letzten Nacht hat sie mit dem Tod gerungen; die Ärztin hatte am Vorabend nicht ausgeschlossen, dass sie den Morgen nicht mehr erleben werde.)

Jetzt sitzt sie in ihrem Stuhl, schwach und hinfällig, nach dem Ende ihrer Geschichte wieder am Gespräch teilnehmend. Später trage ich noch eine Sauerstoffflasche in ihr Zimmer, die ich mit Mutter zusammen im Altersheim des Dorfes geholt habe. Jetzt ist sie im Bett, halb liegend, halb sitzend in hochaufgetürmten Kissen. Wieviel Uhr es sei, fragt sie mich. Bald Abend, zehn vor sechs, sage ich. Sie hätte gedacht, es sei sicher schon fast Morgen, wie die Zeit langsam vergehe, sagt sie. Als ich ihr die Hand gebe, dankt sie mir mit Tränen in den Augen und sagt einen Gruss für H. Ich wünsche ihr eine gute Zeit.

Dann reise ich zurück nach Bern. Bis nach Mitternacht habe sie sich danach, so hat die Mutter vorhin am Telefon erzählt, noch gewehrt («Häb mi, Trudi!»), dann sei sie ins Koma gesunken, die Atmung sei immer unregelmässiger und flacher geworden. Heute Vormittag gegen zehn Uhr ist sie gestorben.

(19.01.1991, 22.02.1998; 15., 29.05.+10.06.2018)

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