Ein bisschen Demokratie spielen

3. September 1994, Kundgebung auf dem Bundesplatz für die UNO-Antirassismus-Konvention, die am 25. September zur Abstimmung kommt. Angeführt von Bundesrätin Ruth Dreifuss (SP) und Bundesrat Flavio Cotti (CVP) gibt sich nicht nur ein breites Spektrum der politischen Parteien die Ehre, sondern auch die erste Garde der massenwirksamen Musikszene (von «Züri West» bis Andi Vollenweider). Ausser der rechten Opposition sind sämtliche Parteien für das Ja, trotzdem ist unsicher, ob die Abstimmung gewonnen wird: Das ProtestwählerInnenpotential, auf das sich der rechte Populismus stützt, scheint von Jahr zu Jahr zu wachsen.

Merkwürdig: Wenn wir noch vor zehn Jahren hier demonstriert haben, dann hörten wir vergleichsweise linke Brandreden an, und dass auf dem Platz eine linke Opposition (weitgehend links der SP) versammelt war, schien mir selbstverständlich. Heute bemüht sich der Bundesrat mit einer Zweierdelegation her, um sein Volk anzuflehen, den bitteren Kelch eines expliziten Votums für den Rassismus (wie ein «Nein» in der internationalen Rezeption wohl interpretiert würde) an ihm vorbeigehen zu lassen. Und auch jetzt wieder sind «wir» hier, hören uns die staatstragenden Appelle an und applaudieren sogar (vorn links wird während Stunden unermüdlich eine schwarze Fahne mit rotem Stern geschwenkt), unterstützt diesmal von direktbetroffenen Ausländerinnen und Ausländern.

Es ist, als ob eine nicht durchschaute, massive Umwälzung die politische Welt – zu der wir als Oppositionsfolklore so gut gehören wie der Bundesrat als Regierungsfolklore – insgesamt zum Randgruppenphänomen gemacht hätte, dem die Polizei am Samstagnachmittag ein wenig Auslauf gibt (Demokratie spielen!). Abends dann sitzt der vaterländische Menschenverstand vor der «Tagesschau» und rülpst durchs propere Einfamilienhäuschen: «Schau mal an, die Jammerlappen aus dem Bundeshaus sind endgültig unter die Chaoten gegangen. Wegputzen das Pack.»

(06.09.1994; 11.08.2017)

Das «Verbot der Rassendiskriminierung» – wie die Abstimmung offiziell geheissen hat – ist am 25. September 1994 mit 1’132’326 Ja- gegen 939’738 Nein-Stimmen angenommen worden, also mit einem Ja-Stimmen-Anteil von 54,7 Prozent.

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