Die Kritik am Vorstand

In einem Verein ist es bedeutend einfacher, die Weltordnung zu kritisieren als den Vorstand.

(10.2./16.6.1992)

 

Nachtrag

Zufälligerweise lautet der Titel meiner Monatskolumne vom August 2017 «Die Kunst der demokratischen Kritik». In der Logik jener Argumentation bringt dieses aphoristische Werkstück das Problem des Eskapismus der Kritik auf den Punkt, das in den letzten Jahrzehnten insbesondere im Medienbereich eines geworden ist.

Allerdings ist dieser Eskapismus nicht ein Symptom für zunehmende journalistische Feigheit, sondern eine Folge der Verdrängung der politischen Meinungspresse durch die Forumszeitungen seit dem Zweiten Weltkrieg. Konnte die Meinungspresse, die von überzeugten Gleichgesinnten getragen worden war, gegen alle anderen beliebig polemisch vom Leder ziehen, pflanzte die Logik der Forumszeitungen in den Kopf jedes einzelnen Redaktors (später auch in die Köpfe der ersten Redaktorinnen) Scheren der Selbstzensur.

Nun mussten pointierte Stellungnahmen simuliert werden, die aussahen wie Kritik, jedoch garantierten, dass sie vom politisch linksten bis zum rechtesten Abonnementen goutiert wurden, ohne dass einer von beiden im ersten Ärger die Zeitung abbestellte.

Neben einer filigranen Einerseits-andererseits- respektive Sowohl-als-auch-Artistik führten Forumszeitungen zur epidemischen Ausbreitung von eskapistischer Kritik nach dem Motto: Es ist publizistisch nicht relevant, den eigenen Vereinsvorstand zu kritisieren, solange Gerhard Schröder und Wladimir Putin sich duzen (was im eskapistischen Saure-Gurken-Kommentar des «Bund» vom 13. August 2017 zum mittleren Skandal aufgeblasen wird).

Von Kritik, die ich bewundere, berichtet Arnold Hottinger auf Journal 21. Ende Januar 2017 ist der türkische Journalist der Tageszeitung «Cumhuriet», Ahmet Şik, verhaftet worden. Dieser Tage steht er vor Gericht und hat eine Verteidigungsrede gehalten, die er selber als Anklage bezeichnete – auch gegen die Regierung, die ihn vor Gericht gebracht hat. Hottinger: «An einer Stelle unterbrach der Richter seine Rede und fragte: ‘Haben sie den türkischen Staat des Mordes bezichtigt?’ Er antwortete: ‘Ja, und ich habe dabei untertrieben. In Wirklichkeit ist er ein Massenmörder.’»

(13.+18.08.2017; 11.05.2018)

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