Wenn Sprache unmenschlich wird

Wie Franz J. Hinkelammert die Pervertierung des existentiellen Diskurses anhand des Johannes-Evangeliums nachweist – insbesondere an dessen Umdeutung in sein Gegenteil durch das imperiale Christentum –, so weist André Gorz die Pervetierung des sozialen Diskurses in der total formalisierten wissenschaftlichen Sprache nach. Wie die imperiale christliche bringt auch diese Sprache den Menschen als Subjekt zum Verschwinden: Gorz erinnert sich an ein Gespräch mit dem Ethnologen Claude Lévi-Strauss, der «wahrscheinlich de[r] perfekteste[] Virtuose[] des subjektlosen formalisierenden Denkens» gewesen sei. Lévi-Strauss habe ihm gesagt, er wolle gar nicht als Mensch da sein: «Meine Einwände, dass er doch gerade mit mir redete, wies er mit amüsierter Gelassenheit ab: Seine Äusserungen seien doch nur Neuronenschaltungen in ‘seinem’ Gehirn, meinte er (‘mein’ Gehirn hätte er eigentlich nicht sagen dürfen).»[1]

Pervertiert sind beide Diskurse aus demselben Grund: Sie bestreiten die Notwendigkeit der Existenz des Menschen als «lebendiges und bedürftiges Subjekt […], mit seinem legitimen Recht auf Rebellion»[2]. Im Fall der wissenschaftlichen Sprache konstatiert Gorz zudem die Hybris, «den ‘Geist’ von seiner Faktizität befreien und Gott angleichen» zu wollen: «Die Auflehnung gegen die körperliche Existenz, die Endlichkeit und den Tod drückt sich im Hass auf die Natur und die Natureingelassenheit des Lebens aus.»[3] Hier also erneut die These: Die Totalisierung eines Diskurses pervertiert ihn ins Unmenschliche.

Daraus ergibt sich: Es gibt keinen «guten» sozialen und keinen «schlechten» existentiellen Diskurs (oder umgekehrt). Beide tragen sowohl Aspekte des Menschgemässen wie Aspekte des Unmenschlichen in sich. Es gibt nur die Machtkämpfe um die Hegemonie zwischen dem ursprünglichen sozialen und dem reaktiven, metaphorisch darüber hinaus gewachsenen existentiellen Sprachuniversum. Beide haben sich menschheitsgeschichtlich in das Hirn eingebrannt und wesen mit allen Verwerfungen, Widersprüchen, Doppeldeutigkeiten und Doppelbedeutungen im Kopf jedes einzelnen Menschen. Beide Sprachen können unterschiedlich gebraucht werden. Reden hat deshalb immer auch eine ethische Dimension: Man kann die Welt nicht nur kaputt schlagen, man kann sie auch kaputt reden.

[1] André Gorz: Wissen, Wert und Kapital. Zur Kritik der Wissensökonomie. Zürich (Rotpunktverlag), 2004, S. 98.

[2] Franz J. Hinkelammert: Der Schrei des Subjekts. Vom Welttheater des Johannesevangeliums zu den Hundejahren der Globalisierung. Luzern, Edition Exodus, 2001, S. 352.

[3] Gorz, a.a.O., S. 99.

(05./17.05.2005; 09, 17.+24.04.2018)

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