Die Geschichte der Sprache in drei Schritten

Ich postuliere zu meinem Vergnügen drei Phasen, in denen sich die menschlichen Sprachen entwickelt haben:

1. Das Zeitalter des Bellens: Das ist die grosse Zeit der Stärksten, der Krieger und der Häuptlinge. Die Sprache entsteht und dient zur Existenzsicherung und zur Ordnung innerhalb der sozialen Einheiten. Sie wird zum nur noch sekundär brachialen Instrument der Machtausübung und ist insofern eine grundlegende zivilisatorische Leistung.

2. Das Zeitalters des Warum?-Diskurses: Das ist die grosse Zeit der Magier, Schamanen und Priester. Der Warum?-Diskurs konkurrenziert und relativiert den Belldiskurs. Mit den Befehlslauten der Bellenden wird ein neuer metaphorischer Diskurs gebaut, der seinerseits unwiderlegbar ist, weil er das Nichtbelegbare und Unbeweisbare zum Kerngeschäft macht (die «Götterwelt»). Gegen die Rationalität des Befehls stellt dieser Diskurs die Irrationalität eines jenseitigen Befehls. Seine emanzipative Leistung besteht darin, dass er die Möglichkeiten des menschlichen Zusammenlebens um  moralische und ethische Kategorien erweitert.

3. Das historische Zeitalter setzt ein mit einem Gegenangriff der ursprünglichen Rationalität. Handelnde sind jetzt nicht mehr vorab Krieger und Häuptlinge, sondern «Kriegerphilosophen»» im Sinn zum Beispiel der «milesischen Aufklärung». Sie systematisieren die Rationalität und beginnen, sie als wissenschaftliche auf die gesellschaftliche Praxis anzuwenden. Die stärkste Waffe dieses emanzipatorischen Aufschwungs ist die Entwicklung der Schrift. Dadurch macht die menschliche Kommunikation in Sachen Präzision und Behaftbarkeit einen grossen Schritt vorwärts. Im Lauf von bisher mehr als drei Jahrtausenden wird es so möglich, die narrativen Künste des Priesterdiskurses als materiell nirgends abgestützten Machtgestus zu durchschauen und in die Schranken zu weisen.

(02.+3.3.; 29.04.2005; 09., 17.+24.04.2018)

 

Nachtrag

In der Logik dieser Dreischrittthese ist für mich heute zusätzlich klar, dass das Zeitalter eines neuerlichen Gegenangriffs des metaphorischen Warum?-Diskurses bereits eingesetzt hat. Der emanzipative Impuls der über drei Jahrtausende voranschreitenden, kriegerphilosophischen Aufklärung kommt an sein Ende. Die Kräfte, die der Impuls zu entfesseln vermochte, kommen an ihre ökologischen und dadurch ökonomischen Grenzen. Die neoliberal radikalisierte Ausbeutung aller Ressourcen seit bald einem halben Jahrhundert kann gelesen werden als Versuch einer Minderheit, den bevorstehenden grossen ökologischen und ökonomischen Crash gegen den Rest der Welt zu überleben.

Tag für Tag zeigen politische Meldungen, dass die von der Vernunft dringlich gebotene, weltweite ökologische und soziale Nachhaltigkeit politisch nicht durchsetzbar ist. Erst nach dem deshalb unausweichlichen, so oder so oder so menschgemachten Crash[1] wird das, was ich als emanzipativen Impuls einer existentiellen Aufklärung beschrieben habe, eine neue Chance erhalten – wobei dieser Impuls voraussichtlich gegen die neu aufblühende Kaste der Magier, Schamanen und Priester durchgesetzt werden müsste, die aus ihrem wohlfeilen Trost für die chronisch überlebensbedrohenden Zustände neue Privilegien werden destillieren wollen.

[1] Hierzu resümiert der Klimaforscher Hans Joachim Schellnhuber in einem grossen Interview: «Wenn wir den Klimawandel nicht in den Griff bekommen […], brauchen wir über Einkommensverteilung, Rassismus und guten Geschmack nicht mehr nachzudenken.» Er warnt vor «einem selbstverstärkenden Treibhauseffekt mit 6 bis 8 Grad Erderwärmung»: «Was der Mensch heute anstellt, ähnelt […] dem Asteroideneinschlag an der Kreide-Paläogen-Grenze. Dass so etwas jetzt geschieht, in diesem Tempo, auf einem überbevölkerten, übernutzten Planeten, gleicht einem kollektiven Suizidversuch.» (Bund, 02.06.2018) Wer heute davon ausgeht, dass ein «menschgemachter Crash» nicht unausweichlich sei, muss davon ausgehen, die Verlangsamung des Klimawandels auf die zurzeit diskutierte 2-Grad-Höchstgrenze sei weltweit politikabel.

(09., 17., 24.04.+03.06.2018)

v11.5