Nein sagen im Kleinstaat

1.

Die GegnerInnen des Kulturboykotts unter den Kulturschaffenden haben nachvollziehbare Argumente: Etwa die Hoffnung auf die subversive Wirkung ihrer integrierten Kritik. Oder die staatspolitische Verantwortung. Allenfalls ihre persönlichen ökonomischen und sozialen Zwänge. Et cetera.

Ziehe ich dieses Nachvollziehbare ab, so bleibt in ihrer Argumentation ein nicht-erklärbarer Rest, ein nebulöses Phänomen, das wattig und versöhnlerisch in die Lücken zwischen ihren Argumenten kriecht und die klare kulturpolitische Stellungnahme des Boykotts wie Gesinnungsterror aussehen lässt: Das ist die Unfähigkeit der Kritik im Kleinstaat, nein zu sagen.

Diese Unfähigkeit ist ein sozialpsychologisches Phänomen. Kritik im Kleinstaat muss mit dem paternalistischen Sog rechnen, der von einem System ausgeht, zu dessen politischer Kultur es gehört, an den Stammtischen landauf landab mit saturierter Unzufriedenheit hemdsärmlig Kritik zu simulieren. Dieser Sog macht Kritik, die mehr sein will als Folklore, zum Gemotze maulender Kinder. Viele Kulturschaffende meinen, sich solches Maulen nicht leisten zu dürfen.

2.

Dem Kulturboykott-Komitee, das den Boykott der 700-Jahr-Feier ohne Wenn und Aber zu organisieren hat, wird – gerade von linksliberaler Seite: von Hans Saner, Hansjörg Schneider, Alexander J. Seiler – Gesinnungsterror vorgeworfen. Tatsache ist aber: Der Staat Schweiz, der sich einerseits modern dünkt, andererseits ideologisch von einer traditionalistisch-paternalistischen «Diktatur des Patriotismus» (Hans Tschäni) gesteuert wird, hat einen gesinnungsterroristischen Aufruf erlassen: Die Kulturschaffenden haben sich bereitzuhalten, auf Kommando, in einem von Staats wegen vorgegebenen Rahmen, ihre Stimme zu erheben zur höheren Ehre des Staates.

Kritik darf diesmal sogar sein: Allfällige kritische Töne wirken als selbsterfüllende Prophezeiung. Sie bestätigen die Ideologie von Liberalität und Toleranz einer Herrschaft, die zur Zeit gegen den imageschädigenden Vorwurf kämpft, ein flächendeckender Schnüffelstaat zu sein. Wer diesen gesinnungsterroristischen Angriff der Herrschaft zurückweist, dem wird in dem Moment Gesinnungsterrorismus vorgeworfen, in dem er kulturpolitisch aktiv wird, d. h. so öffentlich wie möglich das Wort ergreift und sagt, was für ihn der Fall ist.

Der Grund für diese Verdrehung von Ursache und Wirkung liegt darin, dass das Tabu der Schweiz als Herrschaftssystem in der alltäglichen Praxis auch von Linksliberalen respektiert wird. Spricht hierzulande die Obrigkeit, dann kuschen auch vergleichsweise aufgeklärte Geister, als mahne am Stammtisch der Dorfschullehrer zum Feierabend. Der Einbezug von Herrschaftsverhältnissen in die Argumentation, das heisst die Politisierung der Interessengegensätze, ist ihnen ein Undenkbares, ein Nein zur politischen Kultur, die man für notwendig und einzigartig hält. So wird der Kulturboykott auch solchen Geistern zur Hybris von Verworfenen.

(01./03.6.1990, 27.09.1997; 08.,13.+15.03.2018)

v11.5