Von der Empörung

1.

Der poetische Impuls war mir bisher vor allem anderen der Impuls zur Ideologiekritik. Diese wurde genährt von einer unversöhnlichen moralischen Empörung über das Unrecht, das die Welt beherrscht. Diese Empörung blieb einerseits unversöhnlich, andererseits wurde sie allmählich durchscheinender, bis sie sich wie ein Stück Trockeneis in Nichts auflöste. Empörung ist hierzulande eine abstrakte Sache, eine intellektuelle Leistung, ein unbequemes Bemühen, an das man sich immer wieder erinnern muss, weil es nie zu einer direkten Reaktion, zur impulsiven, entlastenden Tat führt. Wie der Stress, der ungesund ist, wenn die durch ihn ausgelöste Adrenalinausschüttung nicht in Bewegung umgesetzt werden kann, hat auch die abstrakte Empörung etwas Ungesundes: Sie ist ein In-sich-Hineinfressen der Empörung über die Unveränderlichkeit der Wirklichkeit, wie sie ist.

Unveränderlich und empörend ist die fundamental ungerechte Ordnung der Welt und die hegemoniale öffentliche Rede darüber, die dieses Unrecht legitimiert, indem sie sagt, dass allen Menschen auf der Welt dann am besten geholfen sei, wenn sich die ungerechte Ordnung noch immer unkontrollierter entfalten könne. Diese Weltordnung ist empörend, weil sie eine Minderheit im Überfluss leben lässt, indem sie anderswo auf der Welt in ökonomischen und militärischen Kriegen fortwährend abertausende von Zivilisten und Zivilistinnen tötet, soziale Netze zerreisst, Bevölkerungsgruppen ausgrenzt oder vernichtet, Städte und Landstriche dem Erdboden gleichmacht, gar ganz Völker dezimiert, die Welt vergiftet. 

All dies geschieht – aber kaum je bei uns. Die Empörung nährt sich deshalb nicht aus der eigenen Anschauung, der eigenen Betroffenheit, sondern bloss aus der Erinnerung an angelesenes Wissen, wonach das Unrecht anderswo jetzt und permanent geschehe. Mit dem durch die Jahre zunehmenden Zerbröckeln der Ambition, etwas verändern zu können, ja, etwas verändern zu müssen, zerbröckelt die Empörung selbst. Denn der konkrete Lebensraum ist ja eben doch sehr probat eingerichtet – auch wenn er anderswo mehrfach vermittelt ökonomisch und militärisch auf menschenvernichtende Art abgesichert werden muss. Bin ich dafür verantwortlich zu machen? Wie stark korrumpiert mich die Tatsache, dass ich als Mitglied des Ideologiekritik produzierenden Milieus am herrschenden Niveau des Überflusses teilhabe? In solchen Fragen zerschleissen sich Ambition und Empörung an der konkreten Realität.

Insofern sich der poetische Impuls mit dem Impuls dieser Empörung deckt, erledigt sich mit der Unmöglichkeit, etwas zu verändern, meine Poesie selbst.

2.

Am Grab von Sören Kierkegaard versteht Egon Erwin Kisch plötzlich, warum dieser gesagt hat, das Kommando zum Feuern selber geben zu wollen, falls alle Journalisten füsiliert würden: «Nicht wegen der Phrase, denn es gibt sachlichere Menschen unter uns als in anderen Berufen […], nein, wegen unseres Mangels an Hass, an Empörung, an Erregung. Wir sind ärger als Phrasendrescher, denn wir sind freiwillig zu Dienern der Phrasendrescher geworden, zu Knechten des Kompromisses, zu Leibeigenen des eitelsten Spiessertums, zu Sklaven des Heute.»[1] Auch wenn ich nicht allen Zuschreibungen Kischs zustimme – niemand wird ja ganz freiwillig zum «Diener der Phrasendrescher», sondern man singt gewöhnlich das Lied dessen, der einem das Brot gibt, gezwungenermassen, um nicht hungern zu müssen; und dagegen, ein «Knecht des Kompromisses» zu werden, kann man sich durch anwaltschaftlichen, parteiischen Journalismus zumindest teilweise schützen –, aber den zunehmenden Mangel an Hass, Empörung und Erregung kenne ich an mir selber.

Symptome einer journalistischen Berufskrankheit? Nein, ein Hinweis auf Professionalität: Der Job des Journalisten ist es ja nicht, zu hassen, empört und erregt zu sein, sondern allenfalls Hass, Empörung und Erregung hervorzurufen und/oder zu vermitteln (insofern sollen JournalistInnen nicht strahlen wie die Sonne, sondern das Licht reflektieren wie der Mond). Würden die Überbringer der schlechten Nachricht füsiliert, dann träfe es Profis, die nicht darüber empört sein mögen, dass die Nachricht, die sie überbringen, schlecht ist. Empörung ist eine Lebenshaltung, aber keine  Berufseinstellung.[2]

Allerdings stelle auch ich fest, dass sich Mitglieder meiner Profession um eines geregelten und anständigen Einkommens willen geehrt fühlen, als «Diener der Phrasendrescher» fest angestellt zu werden. Nur eben: Empören kann ich mich darüber immer weniger. Das Empörende herauszufinden und zu wissen, gehört zum Beruf, sich über das Herausgefundene zu empören, ist etwas für den Feierabend.

3.

Empörend ist ja nicht die unbestreitbare Bequemlichkeit eines Autos, solange man dieses von Schadstoffemissionen und Treibhauseffekt, hirnrissigen Strassenbauprojekten, von seiner massenmörderischen Waffenfähigkeit und den jährlich hunderten von Verkehrstoten allein in der Schweiz zu abstrahieren vermag. Empörend ist nicht das gut zubereitete Schweinekotelett, solange man von der Realität der industriellen Tierhaltung absieht. Empörend ist nicht die unbestreitbare Nützlichkeit der Glühbirne, solange man davon absieht, dass die Endlagerung des hochradioaktiven Mülls aus den Atomkraftwerken nie wird sicher gestaltet werden können. Empörend sind nicht die angenehm billigen Preise des Kaffees, solange man nicht wissen will, dass es Legionen von Kaffeebauern gibt, die an den Weltmarktpreisen verzweifeln. Et cetera.

Es ist immer das gleiche: Empörung, die sich aus dem Festhalten an unverzichtbaren Grundsätzen einer menschlichen Vernunft ergibt, schmälert nur die Bequemlichkeit des gedankenlosen Konsums, der erst die gedankenlose Massenproduktion dieser Bequemlichkeit garantiert. Wo sich Wohlstand und Vernunft so diametral und unversöhnlich gegenüberstehen, wäre Vernunft nur mit der Maschinenpistole durchsetzbar.

An diesem Punkt gibt es zwei Möglichkeiten: Die Bereitschaft zum Massenmord aus «Vernunft», dem man je nach Blickwinkel «Revolution» oder «Terrorismus» sagt, oder die Resignation, das heisst: der Hass auf die eigene Empörung und der Rückzug in einen moderaten Konsumismus. Immerhin zwingt die Befriedigung der Grundbedürfnisse ja auch mich, mich auf den Konsumismus ein Stück weit einzulassen: Deshalb kann ich dem, was prinzipiell verurteilt werden müsste, nur graduell ausweichen. Und deshalb ist, wer prinzipiell verurteilt, von den Umständen, unter denen er das tut, immer schon korrumpiert.

[1] Egon Erwin Kisch: Der rasende Reporter. Berlin (Aufbau Taschenbuch Verlag), S. 73.

[2] In diesen Tagen hat mir ein Berner Berufsfeuerwehrmann, den ich für die Gewerkschaftszeitung work zu porträtieren hatte (siehe hier), auf die Frage, wie er mit Tod und Zerstörung umgehe, geantwortet: Er helfe nach den Regeln seines Berufs so gut er könne, aber die Probleme derer, die er zu sehen bekomme, seien nicht seine Probleme. Wenn er sie als seine ansehen würde, würde er an ihnen kaputt gehen.

(08., 09.+13.04.; 13.05.1995; 01.+07.09.2005; 27.02., 05.+07.03.2018)

v11.5