«Gott» ist Herrschaftswährung

Es ist nicht zu beweisen, dass Gott nicht der Allmächtige ist, falls es so etwas geben sollte, wie es dem Begriff «Gott» zugeschrieben wird. Umgekehrt hat dieser Begriff auch dann einen Sinn, wenn es Gott nicht gibt. Gerade seine nichtbeweisbare Nichtexistenz ermöglicht all jenen, mit Gott zu fechten, denen der Begriff «Gott» aus irgendwelchen Gründen nützt.

Die Einführung des Begriffs «Gott» in den Diskurs bedeutet das Gleiche wie die Multiplikation irgendeines Faktors mit der Zahl Null. Hinter ihr steht stets die Absicht, Einfluss auf Menschen zu nehmen, um sie zu beherrschen. Wer vorbetet, will beherrschen; wer nachbetet, wird beherrscht, auch wenn er das nicht möchte: Das ist der zentrale rationalisierbare Gehalt des religiösen Diskurses.

Gott ist eine unbeweisbare und unwiderlegbare Leerstelle. «Gott» ist die Spielmarke bei der illusionären Umwertung der allgemeinmenschlichen Todesangst. Der Begriff «Gott» verhält sich zum Bedürfnis, mit der eigenen Lebens- und Todesangst umzugehen, wie der Begriff «Geld» zu jenem nach Nahrung und Unterkunft. «Gott» ist die metaphysische, «Geld» die matrialistische Währung von Herrschaft.

• Der sich jederzeit gefährdet sehende Lebenswille der Beherrschten wählt mit der Unterwerfung unter «Gott» die Sicherheit gesellschaftlicher Integration, zudem postmortal das Erlösungsversprechen. Seine Ablehnung dagegen bedeutet tendenziell Segregation, zudem postmortal die Verdammnisdrohung.

• Der sich jederzeit gefährdet sehende Lebenswille der Herrschenden benützt zum Beispiel den Begriff «Gott» zur Spaltung der Gesellschaft in integrierte und segregierte Personen. Indem sie sich als Gläubige, Nichtgläubige oder irgendwie Andersgläubige misstrauisch gegenüberstehen, werden die Leute einfacher beherrschbar.

Die Säkularisierung des Begriffs «Gott» ergibt den Begriff «Geld». «Gott» und «Geld» durchdringen die Gesellschaften bis tief ins Innere der einzelnen Subjekte. Der Verlust von Gott und Geld ist in einem seelischen respektive einem materiellen Sinn die Hölle. Stehen die beiden Begriffe nicht mehr für die Zerstörung der eigenen Existenz, ist ihr Zauber gebrochen: Geld wird zu Blech, Papier oder einer nackten Zahl, Gott zu einem sinnfreien Laut.

(28.5.1989, 7.7.1997; 24.+30.01.2018)

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