Ich bin kein Romanautor

Freund B. S. erzählt von Werner Schmidlis neuem Kriminalroman, der im Bleniotal spiele[1], zwar mit viel Lokalkolorit arbeite, aber doch nicht überzeuge. Er vermutet, Schmidli verbringe jeweils seine Ferien in diesem Tal, deshalb habe er es als Schauplatz ausgewählt. Das Kolorit ergebe sich aus Angelesenem und aus einer Art Touristenblick, einer spezifischen Perspektive kolonialer Inkompetenz.

Blitzartig wird mir klar, warum ich keine Romane schreiben könnte: Weil ich keine Heimat habe (und mir auch keine vorstellen kann); weil in mir kein Widerschein eines zusammenhängenden geografischen Orts ist, über den zu reden ich mich als Ansässiger und Zugehöriger kompetent fühlen würde. Ich weiss nicht, wie die Leute reden, ich kann ihnen nur immer und immer wieder aufmerksam zuhören und über dieses Gehörte berichten. Mein Raum der Fiktion bildet keine romaneske Welt. In mir sind lauter Weltsplitter, die, wenn ich schreibe – also durch die intellektuelle Durcharbeitung – eher zu weltloser Abstraktion als zu einem Bleniotal werden.

[1] Werner Schmidli: Guntens stolzer Fall. Zürich/Frauenfeld (Nagel & Kimche) 1989.

(01./03.06.1990, 27.09.1997; 07.08.2017)

 

Nachtrag 1

Aber Albert Bitzius! Wie war es möglich, dass er als Stadtberner, als Auswärtiger, in Lützelflüh innert weniger Jahre seine Exilwelt zum Romankosmos des Jeremias Gotthelf umzudeuten verstand? Romancier zu sein ist demnach nicht eine Frage der ungebrochenen Verbundenheit mit einer Heimat, sondern eine des funkenschlagenden Zugriffs auf die Wirklichkeit als fremde, die so zum plausiblen Sprachraum für einen Roman geformt wird. Wer aber diesen Zugriff nicht kennt, nicht beherrscht oder ihm misstraut; wer statt der Wahrheit einer rundgedichteten Welt bloss die Richtigkeit einzelner Fakten behauptet, ist Reporter, nicht Romancier. Und von jenem führt kein gerader Weg zu diesem, denn zwischen beiden Zugängen zur Wirklichkeit klafft ein Abgrund.[1] Niklaus Meienberg zum Beispiel ist in ihm zu Tode gestürzt.

[1] Im Minimum ist es ein unübersichtliches Grenzgebiet.

(11.2007; 15.03.2018)

 

Nachtrag 2

Vorwort zu einem noch zu schreibenden Buch

Die Geschichten in diesem Buch sind Lug und Trug. Sie sind mit redlichster Recherche zusammengestiefelte Fabulierereien, die es nicht nötig haben, erfunden worden zu sein über das Notwendige hinaus: keine Person, die nicht – unter diesem oder einem anderen Namen – anzutreffen gewesen wäre, kein Zitat, das nicht gesagt worden ist. Insofern unterscheidet sich, was hier vorliegt, wohltuend von den industriellen Zurichtungen der grossen Medien, die es darauf abgesehen haben, als «real existierende Wirklichkeit» zu erscheinen, mit dem, was tatsächlich ist, verwechselt zu werden und tatsächlich nichts dringlicher versuchen, als den Blick auf die Welt zu verstellen.

Sollte es mir hier mit der einen oder anderen Passage gelungen sein, die Autoren und Dramaturginnen jener «Wirklichkeit» in ihrem Anspruch zu parodieren und ihre «Wirklichkeit» – und wäre es mit Lug und Trug – zur Kenntlichkeit zu entstellen, so wäre diese Schreibarbeit zu meiner Zufriedenheit getan.

(02.06.2009)

 

Nachtrag 3

Wahrscheinlich bin ich das, was man zu anderen Zeiten als einen Literaten bezeichnet hätte. Ich bin einer, der sich – nach Georg Lukács – der «Verhaltensart» der «Indirektheit», der «Distanz vom Leben» bewusst ist, die für die «evokative Widerspiegelung» der Wirklichkeit in einem Abbild nötig sei.[1]

Aber ich will mit dem, was man heute sein muss, um als «Literat» zu gelten, nichts zu tun haben. Darum verwahre ich mich für meine Person gegen diese Zuschreibung.

[1] Georg Lukács: Ästhetik I. Neuwied und Berlin (Luchterhand) 1972, 227ff.

(09./23.05.2013; 07.08.2017)

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