Max Frisch stirbt

1.

Gestern, während einer Pause an der Vollversammlung des «Kulturboykotts 700» im «Weissen Wind» in Zürich, als wir in der Toilette nebeneinander vor Pissoirschüsseln stehen, sagt Urs Bircher, Dramaturg am Schauspielhaus, wir sollten uns bei der WoZ bereithalten, Frisch sterbe jetzt. Seit der Aufführung des «Palavers»[1] im letzten Herbst hat Bircher den Kontakt zu Frisch behalten; er besucht ihn alle vierzehn Tage.[2] Frisch habe Krebs, sei letzthin operiert worden, er gebe sich noch zwei, drei Monate. Die Vorbereitungen zu unserem Symposium der Kulturboykottierenden am 3./4. November verfolge er mit Interesse, Bircher hat ihm auch den programmatischen Text zum Symposium gebracht, den ich massgeblich mitformuliert habe (mein Stolz, Frisch könnte einige «meiner» Sätze zur Kenntnis nehmen). Am Symposium auftreten könne er nicht mehr, er sei zu kaputt, er sei geschafft. Auch hat er offenbar Absenzen, Gedächtnisprobleme: Er wolle niemandem mit einem blamablen Auftritt einen Gefallen machen (seine Fähigkeit zur politischen Selbstkritik, die mich schon an der Solothurner Rede 1986 beeindruckt hat: bis zuletzt). (01.09.1990)

[1] Das Stück ist unter dem Titel «Schweiz ohne Armee? Ein Palaver» 1989 im Limmat Verlag erschienen. Die Uraufführung im Schauspielhaus Zürich am 19. Oktober 1989 stand offenbar unter dem Titel «Jonas und sein Veteran» (vgl. Urs Bircher: Max Frisch: Vom langsamen Wachsen eines Zorns. Zürich [Limmat Verlag] 1997, S. 13).

[2] Bircher schreibt (a.a.O., S. 13f.), die Gespräche mit Frisch hätten «eine zwanglose Fortsetzung» gefunden «bis wenige Tage vor seinen Tod».

2.

WoZ-Kollege pl, der via Niklaus Meienberg informiert ist über Frischs Gesundheitszustand, vermutet, dass dieser seinen achtzigsten Geburtstag am 15. Mai 1991 nicht mehr erleben wird. Frisch leide. Der Katholik Meienberg – offenbar als verhinderter Eckermann – sei enttäuscht, dass Frisch in dieser letzten Zeit «die Transzendenz» fehle. Dahinter steckt vermutlich das religiös begründete Vorurteil, wer «gut» gelebt habe, habe auch einen «schönen» Tod, dem eine Zeit «weisen» Leidens vorausgehe (schon als Jugendlicher wusste ich, vermittelt durch antikommunistische Sektentraktätchen, welch fürchterlicher Tod Lenin gehabt habe; ihn habe der Teufel sozusagen persönlich geholt). Jedoch: Die Krankheit zum Tode bringt gerade bei Krebs physische, also materielle Veränderungen, die das, was Meienberg als «Transzendenz» verstehen mag, physiologisch zerstören können weit vor dem Tod.

Gestern in Zürich beim Mittagessen mit WoZ-Leuten sind wir auf Frisch zu sprechen gekommen, nachdem eben bekannt wird, dass Friedrich Dürrenmatt gestorben sei. Bereits heute feiern die Medien übrigens Dürrenmatt in aller Ausführlichkeit ab. Offenbar hatten sie die Würdigungen für seinen siebzigsten Geburtstag am 5. Januar 1991 bereits in den Schubladen. Bemerkenswert, dass der Chef der Kulturschaffenden dieses Landes, Bundesrat Flavio Cotti, im «Bund» persönlich zu einem dreissigzeiligen Statement über Dürrenmatt ausholt: «Tag der Trauer» / «verliert die Schweiz einer ihrer bedeutendsten Kulturschaffenden» / «sprengte alle Grenzen und schrieb Weltliteratur» / «Dürrenmatts eigene Urkraft, die das Geniale erkennen liess» etc. Offenbar soll Dürrenmatt posthum sofort zum Staatsdichter gemacht werden, nachdem er mit der Schenkung seines Nachlasses an die Eidgenossenschaft den Gesslerhut doch noch gegrüsst hat. Interessant wird die Rezeption von Frischs Todesnachricht sein. Meine Vermutung: Frisch taugt als Staatsdichter nicht, weil er – anders als Dürrenmatt, der die Grenzen des verbalradikalen Moralismus in seinen Texten und in seiner staatsbürgerlichen Praxis nie überschritten hat – seit den siebziger Jahren zunehmend politisch Stellung bezog und deshalb seit Jahren von bürgerlicher Seite als verbitterter Alter, dessen künstlerische Potenz nachgelassen habe, kommentiert wird. (Nun hat ihm Dürrenmatt auch noch den Showeffekt des spektakulären Abgangs vor Ausbruch der staatlich angedrohten 700-Jahr-Feier gestohlen.) Frischs Haltung, die zumindest in den späten Jahren immer auch öffentliche Praxis war, wird zweifellos auch den staatlichen Meinungsmachern als ein Mangel an «Transzendenz» erscheinen.

Ja: Auch Dürrenmatt hat anlässlich der Auseinandersetzung um die Abschaffung der Armee 1989 einige träfe Formulierungen publik machen lassen; aber Frisch hat mit dem Stück «Palaver» und während des Abstimmungskampfs um die GSoA-Inititative mit einer selber finanzierten Plakataktion gehandelt. – Seine staatsbürgerliche Tatenlosigkeit macht Dürrenmatt interessant als Staatsdichter; Frisch, der als Staatsbürger immer wieder eingegriffen hat, wird den Makel des Tendenzdichters nicht loswerden. (15.12.1990)

3.

An Heiligabend ist Frisch dem «Blick» eine grosse Schlagzeile auf der Titelseite wert: «Krebs! Max Frisch todkrank». Und weiter: «Dies sind möglicherweise die letzten Weihnachten für Max Frisch (79): Der grosse Schweizer Schriftsteller leidet an Krebs und liegt todkrank in seiner Zürcher Wohnung» usw. – WoZ-Kollege as erzählt, die Frau, die mit Frisch zusammenlebe, schotte ihn nun gegen aussen vollständig ab. Letzthin habe Alexander J. Seiler ihn in ein Restaurant zu einer Schlachtplatte einladen wollen, von der Seiler wisse, dass Frisch sie früher geliebt habe. Frisch sei zuerst einverstanden gewesen. Später habe er Seiler angerufen und abgesagt. (24.12.1990)

4.

Für den 11. Januar ist in verschiedenen Zeitungen eine «Gedenkfeier» für Friedrich Dürrenmatt unter der Leitung von Kurt Marti angezeigt. Mit Musik, Lesungen (Wolfgang Hildesheimer, Hugo Loetscher, Adolf Muschg, Urs Widmer) sowie Würdigungen von Walter Jens und wiederum Flavio Cotti, seit erstem Januar amtierender Bundespräsident. Dürrenmatts posthume Situierung als Staatsdichter geht zügig voran. Was seine unzweifelhafte künstlerische Radikalität für die Herrschaft erträglich macht, ist seine Metaphysik. In den Dimensionen von explodierenden und erkaltenden Sternen erscheint das Stäubchen irdischen Gewusels in der Tat im Licht einer Sinnlosigkeit, die einen Schatten intergalaktischer Melancholie wirft auf Opfer und Täter zugleich.

Frischs Radikalität, die immer mehr auch Parteilichkeit gegenüber der aktuellen Herrschaft war, ist nicht leicht zu verzeihen; jene Dürrenmatts («Die Schweiz – ein Gefängnis») garantiert von vornherein Unsterblichkeit: Sie betrifft nicht die Machtverhältnisse in der Schweiz, sondern das hoffnungslose Projekt Menschheit. Mit einer solchen Radikalität liess sich, wie Dürrenmatts Biografie zeigt, gut leben und radikal formulieren. – Frisch habe in diesen Tagen – sagt auf der WoZ pl, der neue Informationen hat – kaum noch zwei klare Stunden pro Tag. (07.01.1991)

5.

An der Gedenkveranstaltung für Friedrich Dürrenmatt im Berner Münster hat Kurt Marti eine kurze Botschaft von Max Frisch verlesen: «Ich bin zu schwach, es geht nicht mehr. Ich traure aus der Ferne.»[1] (13.01.1991)

[1] Berner Zeitung, 12.01.1991

6.

Am 2. März 1991 erzählt mir Mariella Mehr, Frisch sei in Berzona. Er nehme das Telefon nicht mehr ab, habe den Telefonbeantworter eingeschaltet. Er werde von seiner Partnerin gepflegt. – Im Zusammenhang mit dem «Worst case scenario», einer apokalyptischen Verschwörungstheorie in Bezug auf den aktuellen Golf-Krieg, mit dem Niklaus Meienberg seit Ende Januar halb als Prophet des jüngsten Tags, halb als interkontinentaler Friedensapostel, vermutlich aber vor allem als postmoderner Don Quichotte von einer Zeitungsredaktion zur anderen gehetzt ist, wurde öffentlich, er habe dieses Szenario «auf Anregung von Max Frisch» geschrieben. Es sei Meienberg dann aber nicht gelungen, Frisch «zu eigenen Aktionen [zu] überreden».[1] WoZ-intern heisst es, Meienberg habe sich deshalb mit Frisch überworfen (wie mit allen, die seinem Szenario mit Skepsis begegnet sind). Frisch sei, so pl, am Sterben. (03.03.1991)

[1] Bündner Zeitung, 15.02.1991.

(08.08.2017; 16.03.2018)

 

Nachtrag 1

Am 4. April 1991, am Tag von Frischs Tod, habe ich auf der WoZ in Zürich gearbeitet. Irgendjemand kam am frühen Nachmittag mit der Todesmeldung ins Büro – ein Primeur, der einen von der Arbeit aufschauen liess. Mit der Frage: Was machen wir dazu? wird der Alltag weitergegangen sein. – Ich erinnere mich, dass ich am Abend dieses Tages die Buchvernissage von Lorenz Lotmars posthum publiziertem Hauptwerk «Die Opferung» besucht habe. Ich spazierte von der Redaktion am Waffenplatz stadteinwärts und hinüber zum Restaurant Cooperativo, wo der Anlass stattfand. Es war ein milder Frühlingsabend.

Ich erinnere mich, dass ich auf der Überführung beim Bahnhof Enge einen Klotz im Hals hatte und plötzlich gegen Tränen kämpfte, dass das mit der Meldung von Frischs Tod zusammenhing und dass ich überrascht war über diese Gefühlsanwandlung. Ich habe Frisch nicht persönlich kennengelernt. Aber ich vergesse nicht, dass es im Sommer 1974, als ich als neugebackener Primarlehrer in Läufelfingen zum ersten Mal ernsthaft zu versuchen begann, meine sprachlose Empörung über die Welt-wie-sie-ist mit Argumenten zu Wort kommen zu lassen – dass es zuerst seine Bücher waren, die mir zeigten, wie ein unversöhntes und unversöhnliches Denken möglich wäre, ohne die Menschen verachten zu müssen. (25.10.1997)

 

Nachtrag 2

Nach dem Tod von Max Frisch hatte ich für die WoZ Nr. 15/1991 einen Nachruf zu schreiben. Er trug den Titel: «Frisch hat Wort gehalten». Aus Frischs von der NZZ am 10. April 1991 kolportierten letzten Worten habe ich später das Gedicht «kapitänsschiffstraum» gemacht.[1]

[1] fl.: Echsenland. Zürich (Rotpunktverlag) 2005, S. 18f. (zuerst abgedruckt in WoZ Nr. 14/1992).

(08.08.2017; 16.03.2018)

 

Nachtrag 3

WoZ-Kollege pl, der Frisch in der letzten Zeit ab und zu besucht hat, erzählt, Frisch habe ihm einmal gesagt, das Schlimme am Altwerden sei, dass jene Leute wegstürben, mit denen man aufgrund des gleichen Erfahrungshintergrunds habe plaudern können. Das Reden werde ihm manchmal mühsam, weil er nicht mehr plaudern könne, sondern immer erklären müsse.

(02.12.1998)

 

Nachtrag 4

Bemerkenswert: Im Zentrum des Mäanders mit dem Titel «Ich, Reporter» steht die politisch-ästhetische Differenz zwischen zwei Literaten. Was will ich damit? Offensichtlich Frischs Arbeit, die für mich wichtiger gewesen ist, als «littérature engagée» für bedeutender zu erklären als jene Dürrenmatts. Dahinter schwingt die Frage mit, was ein Intellektueller – auch Reporter sind ja solche – zu tun hätten, um ihrem Namen gerecht zu werden. Insofern geht es um die ethischen Implikationen des publizistischen Tuns. An der Differenz zwischen Frisch und Dürrenmatt habe ich für mich die Idee dessen entwickelt, was Antonio Gramsci in den dreissiger Jahren mit dem Begriff des «organischen Intellektuellen» gefasst haben mag: ein mit seiner Sprache parteiisch Handelnder zugunsten der Gruppe, der er sich zugehörig fühlt. Abgründigkeiten, die für alle Menschen gleichermassen abgründig sein sollen, bleiben unpolitisch. Darum ist Dürrenmatt ein ähnlicher Tendenzdichter wie Gotthelf: Beide waren sie nonkonformistische Pfarrherren, die davon lebten, die Abgründe zu behaupten, aus denen als ihr wirkliches Geschäft der metaphysische Dunst aufsteigen konnte. Parteilichkeit innerhalb der sozialen Welt hat gegenüber der pfäffischen Rundum-Rhetorik allerdings etwas Kleinliches. Diese Kleinlichkeit gilt in der Literatur als unfein (im Journalismus als nicht objektiv). Deshalb bemühen sich die meisten eifrig, fein (und objektiv) zu bleiben – und werden so allzuoft nichts als uninteressant (sogar Dürrenmatt in diesem Punkt).

(07.2009; 08.08.2017; 18.07.2018)

 

Nachtrag 5

Ein Zufall: Einen Tag, nachdem ich dem Nachtrag 4 den Loosli-Abschnitt angehängt habe, bringt der Bund vom 9. August 2017 als Aufschlagseite des Feuilletons Martin Ebels Rezension von Arundhati Roys neuem Roman «Das Ministerium des äussersten Glücks». Der Text beginnt so: «Arundhati Roy ist eine bewundernswürdige Person. Ihr neuer Roman überzeugt literarisch nicht – und beides hängt miteinander zusammen.» Roy sei eine politisch engagierte Frau, die «an die Wirkmächtigkeit der Literatur» glaube und deshalb mit dem Roman «ihren politischen Mehrfrontenkampf mit anderen Mitteln» fortsetze. All das Furchtbare, das sie erzähle, sei zweifellos «wahr», aber es sei so, wie Roy an einer Stelle selber schreibe: «Es gibt zu viel Blut für gute Literatur.» Bei diesem Roman sei deshalb der berechtigte Zorn der Autorin grösser als ihre Gestaltungskraft.

Das ist das gleiche Frame, das Loosli zum literarischen Aussenseiter, Frisch zum Tendenz- und Dürrenmatt zum Staatsdichter macht. Für die literarische Kanonisierung gilt jederzeit: Gestaltungskraft setzt möglichste Blutleere voraus. Texte von bewundernswürdigen Personen können literarisch nicht überzeugen: Entweder sind Personen bewundernswürdig oder sie können schreiben. Das erleichtert den Umgang der Feuilletonisten mit den LiteratInnen überhaupt ungemein.

(09.08.2017; 16.03.2018)

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