Meienbergs Worst-Case-Szenario

Seit Mitte Januar 1991 der Golfkrieg in aller Heftigkeit ausgebrochen ist, arbeitet Niklaus Meienberg offensichtlich daran, die Brücken zu seinen Leuten abzubrechen und sich mit allen anzulegen, die ihm zu widersprechen wagen in seinem Weltverschwörungsdelirium, in das er sich hineingesteigert hat. Die Meienberg-nahe Fraktion auf der WoZ-Redaktion, erschreckt über den fremd gewordenen prominenten Freund, erkennt in seinem Zustand gar «das klassische Krankheitsbild eines Manisch-Depressiven». Wer Meienberg in letzter Zeit gesehen oder gesprochen hat, berichtet übereinstimmend von befremdlichen «Veränderungen»; offenbar schläft er seit Wochen kaum mehr.[1]

Als Quintessenz verschiedener Auseinandersetzungen mit der WoZ-Redaktion lässt er nun durch seine Sekretärin, die er sich neuerdings hält, via Fax eine schriftliche Begründung in 15 Punkten übermitteln, warum er nicht mehr im Impressum der WoZ erscheinen wolle. Diese Begründung sei, wie er in einem Begleitbrief festhält, ungekürzt abzudrucken, ansonsten «wird folgendes passieren: Ich werde a) gar nie mehr was für Euch machen […] b) der gesamte Wortlaut […] geht an eine Nachrichtenagentur und an Zeitungen (auch an welsche) c) ich werde in einer der drei Kolumnen, die mir auflagenstarke Zeitungen angetragen haben […], auf die Sache zu sprechen kommen; ebenfalls an den Solothurner Lit.tagen, wo ich eingeladen bin […]» etc.[2]

Das WoZ-Plenum lehnt den Abdruck dieser «Begründung» ab, auch weil sie diverse Halbwahrheiten, Verdrehungen und persönliche Beschimpfungen enthält.[3] Ich habe, obschon als notorischer Meienberg-Kritiker bekannt, in der Sitzung aus einer hoffnungslosen Minderheitsposition für den Abdruck plädiert. Meine Argumente: Erstens könne es nicht Sache der WoZ sein, Meienberg zu pathologisieren, um ihn vor sich selber (resp. uns vor ihm) zu schützen. Zweitens könne ich in diesem neuesten Text von ihm keine neue Qualität seiner aufgeblasenen, selbstherrlichen Irrationalität erkennen. Drittens ermögliche Meienbergs selbstinszenierte öffentliche Disqualifizierung der WoZ eine neue, kritischere Distanz zu ihm. Und viertens sei es mir ein Vergnügen, auch einmal jenes kaltschnäuzige Verkaufsargument anzubringen mit dem meine gelegentlichen Gegenargumente gegen Meienberg-Texte gewöhnlich (auch) bekämpft würden: Meienberg könne man halt einfach gut verkaufen, auch wenn man mit dem vorliegenden Text nicht glücklich sei.

Item. Für meine Schublade habe ich heute – als Parodie auf Meienbergs «Worst-Case-Szenario» zum Irakkrieg[4] – ein ebensolches entworfen, das dessen spektakulär-apokalyptische Visionen ohne Pathologisierung zur sinnvollen Strategie macht:

Adieu Meienberg – Worst case? Woher denn!

Ein Szenario

1. M.s Versuch, sich von der WoZ zu verabschieden, ist sein Versuch, sich von der schweizerischen Linken zu verabschieden.

2. M.s Verhalten in der Redaktion zu pathologisieren, ist inkompetent und billig. Tatsache ist, dass er einerseits in den letzten Wochen mit seinen sich überstürzenden Golfkrieg-Auftritten und der daneben laufenden Produktion seines neuen Buchs[5] bis an seine physisch-psychischen Grenzen gegangen ist, andererseits diesen Grenzgang seit der St. Galler Preisrede am 25. November 1990 wirkungsvoll öffentlich inszeniert (vor allem mit Auftritten auf Zeitungsredaktionen, mit den daraus resultierenden Artikeln und mit dem «Worst-Case-Szenario» samt den öffentlichen Folgen).

3. M., das kann man aus seinen Auftritten und den publizistischen Arbeiten der letzten Jahre ableiten, vertritt in einem entscheidenden Punkt die bürgerlich-romantische Ästhetik: Er huldigt dem Geniekult und als publizierende Person lebt er ihn auch. M. will als Genie rezipiert werden. Dazu ist die Inszenierung von physisch-psychischen Grenzgängen (das lehrt die Literaturgeschichte) unabdingbar. In diesem Zusammenhang sehe ich auch die nachgerade chronische narzisstische Selbstinszenierung in M.s Texten respektive die Fokussierung der Welt im eigenen Ich. (Dieser wachsende Narzissmus ist lesbar als Krise der Selbstkritik M.s spätestens seit dem Wille-Buch).

4. M. hat Ambitionen. Ein Grund, wieso er sich in den letzten Jahren – ebenfalls öffentlich – als Adlatus von Max Frisch inszeniert hat, hängt mit dem Hegemoniekampf der kritischen (männlichen) Intellektuellen nach Frisch in der Schweiz zusammen. M.s Verhältnis zu Frisch hat ihn als Kronprinz, als Thronfolger Frischs erscheinen lassen.

5. In der Tat folgt nach Frisch entweder die sozialdemokratische Intelligenz (in erster Linie Muschg, Bichsel und Walter) oder M. In diese anstehende Diskussion – Frisch ist schwer krank[6] – hat Bundespräsident und Kulturminister Flavio Cotti in seiner Eröffnungsrede zur «700-Jahr-Feier» in Bellinzona eingegriffen, indem er als kritischen Patrioten einen einzigen namentlich genannt hat: M.

6. Cotti hat in diesem Winter im Hegemoniekampf der kritischen Intellektuellen noch ein zweites Zeichen gesetzt: nach Friedrich Dürrenmatts Tod hat er sofort ein Communiqué veröffentlicht, später seine Haltung in einer Rede im Berner Münster zu Dürrenmatts Gedenken bekräftigt: Dürrenmatt ist der Wunsch-Staatssdichter der offiziellen Schweiz – und eben nicht Max Frisch, der offenbar als Tendenzdichter, der in letzter Instanz die menschliche Tragik nicht bürgerlich-tief genug zu denken vermocht habe, in die Geschichte eingehen soll.

7. Cotti hat demnach signalisiert: Er möchte Dürrenmatt als Staatsdichter (als eine Art Keller oder Spitteler des ausgehenden 20. Jahrhunderts) und M. als seinen Kronprinzen. Die sozialdemokratische Intelligenz soll die Nachfolge Frischs antreten (und durch ihre ausgewiesene politische Parteilichkeit die diskretere von Frisch endgültig an der SPS festmachen). Andersherum: M. hat bisher bei seinen Ambitionen auf den falschen Gaul gesetzt. Der Bundespräsident selbst hat ihm nun den richtigen gewiesen.

8. M. hat sofort reagiert. Mit seinem neuesten, bemerkenswert medienwirksam inszenierten physisch-psychischen Grenzgang – der ihm eine krisenhaft motivierte, publizistische und soziale Neuorientierung erlaubt – und dem Weltverschwörungsszenario zum Irakkrieg hat er einen tragischen Blick auf die Dinge markiert, der ans Dürrenmattische grenzt: moralisch radikal, in gewisser Weise staatsmännisch und politisch vollkommen abgehoben zugleich (à propos «worst case»: Dürrenmatt hat gesagt, eine Geschichte sei erst dann fertig erzählt, wenn ihre schlimmstmögliche Wendung gefunden sei.[7] Hat sich M. mit seinem Szenario nicht primär mit der Wirklichkeit, sondern mit einem dramaturgischen Prinzip Dürrenmatts auseinandergesetzt?). Folgerichtig hat er sich, laut dem WoZ-Kollegen stk, in den letzten Wochen mit Frisch überworfen. Er hat ihn offenbar nicht mehr nötig.

9. Vor diesem Hintergrund ist M.s Abschied von der WoZ unmittelbar einsichtig. Es ist, wie gesagt, ein Abschied von der Linken. Das wird ihm intellektuell nicht allzuschwer fallen: M. verstand sich nie primär als neomarxistischen Linken, weder in seinen Texten noch in seinem Zugang zur Welt. Am Ausgangspunkt seiner Gesellschaftskritik stehen die  Menschenrechte der französischen Revolution, nicht das kommunistische Manifest. Zweifellos war er jederzeit ein integrer, radikaler Demokrat, aber eben kein Linker. Diese Tatsache macht seine hegemoniale Ambition kompatibel mit dem Bedürfnis der offiziellen Schweiz nach einem neuen, wortgewaltigen Hofnarren.

10. Dieser Abschied M.s von der Linken, der umgekehrt auch ein Abschied der Linken von ihm wird sein müssen, ist deshalb für beide Seiten in der Sache ein leichter. Dies schliesst den Respekt vor seiner bisherigen publizistischen Leistung nicht aus.»

[1] Eine Übersicht über jene dramatischen Wochen in Meienbergs Leben gibt Marianne Fehr: Meienberg. Zürich (Limmat Verlag) 1999, S. 418ff.

[2] Niklaus Meienberg: «Meienbergs Verschwinden aus dem WoZ-Impressum» samt Begleitbrief. Typoskript, Mörschwil-les-deux-Eglises, 1. März 1991.

[3] Siehe «Hausmitteilung», WoZ, Nr. 11/1991.

[4] Der Text von Meienberg, der im Januar 1991 unter dem Titel «Worst-Case-Szenario» auch auf der WoZ-Redaktion vorlag, jedoch nicht abgedruckt wurde, erschien dann am 6. Februar 1991 im «Tages-Anzeiger» unter dem Titel «Der Countdown läuft» auf der Leserbriefseite (S. 15). Ausgehend von der Annahme, der Irak werde «nächstens» Israel mit «Giftgasraketen» angreifen und Israel werde «mit einer kleinen sauberen Atombombe» antworten, entwirft Meienberg das Szenario einer Eskalation zum Dritten Weltkieg zwischen den USA und der UdSSR. Er schliesst: «Aufklärung in letzter Minute kann den Holocaust/Doomsday vielleicht noch verhindern. Es geht um die Wurst. Die beiden Dr. Strangelove machen uns sonst den Garaus; beide sind zum Untergang entschlossen.»

[5] Niklaus Meienberg: Weh unser guter Kaspar ist tot u. dgl. Zürich (Limmat Verlag) 1991.

[6] Max Frisch stirbt genau einen Monat, nachdem ich dieses Werkstück am 4. März 1991 geschrieben habe.

[7] «Eine Geschichte ist dann zu Ende gedacht, wenn sie ihre schlimmstmögliche Wendung genommen hat», vgl. Friedrich Dürrenmatt: «21 Punkte zu den Physikern», Pt. 3.

(04.03.1991; 08.11.2017; 02.07.2018)

 

Nachtrag

Tatsächlich, glaube ich mich zu erinnern, ist damals an der Plenumssitzung von Seiten der Redaktion mit der psychiatrischen Diagnose des manisch-depressiven Krankheitsbilds gegen den Abdruck des Meienberg-Texts argumentiert worden. Dass ich für den Abdruck plädierte, hat auch damit zu tun, dass ich damals bereits seit Jahren redaktionell die antipsychiatrische Berichterstattung der Zeitung betreute und eine gewisse Vorstellung von der stigmatisierenden Wirkung des psychiatrisch-pathologisierenden Jargons hatte. Andererseits kann ich im Werkstück mein damaliges Ressentiment gegen Meienberg nicht übersehen (zu den Gründen siehe im Nachtrag zu diesem Werkstück).

Richtig ist auch, dass Meienberg Distanz hielt zum auf der WoZ gepflegten neomarxistischen Jargon als Statussymbol korrekter Linksheit. Ihn deshalb zum Wendehals zu machen, der sich von der Sache der Linken habe abwenden wollen, ist aber aus heutiger Sicht falsch (dass er sich mehr auf die Menschenrechtserklärung als auf das Kommunistische Manifest bezog, ist andererseits richtig). Tatsache ist aber auch, dass ich selber immer wieder Mühe damit hatte, mich als «richtigen Linken» zu verstehen. (So wie ich die «richtige Linksheit» auf der WoZ-Redaktion erlebte, hatte sie stets mehr mit akademischer Distinktion als mit Klassenkampf zu tun.)

Die These, die ich in den zehn Punkten entwickle, ist im Rückblick schief, auch wenn ich sie bis heute wegen der antipsychiatrisch inspirierten Sicht erfrischend und bedenkenswert finde. Jedoch: Sie unterschiebt Meienbergs Handeln eine strategische Rationalität, von der ich damals selber wusste, dass es sie bei ihm so in jenen Wochen nicht gab.

Immerhin bleibt für mich bis heute bemerkenswert, dass Bundesrat Cotti bei seiner innenpolitisch höchst offiziellen Ansprache nicht Frisch – der noch lebt – Muschg, Bichsel oder Walter, sondern eben Meienberg namentlich erwähnt hat. Auf wessen Anweisung hat Cottis Redenschreiber gerade diesen Namen eingesetzt? War es Cotti selber? Oder wer sonst? Und warum? Ende Januar 1991 – also kurz nach der Rede in Bellinzona – hält Cotti in Paris eine Pressekonferenz ab – Meienberg fährt ein und stört lautstark, indem er quasi als besorgter Patriot vor dem drohenden Weltuntergang warnt. Warum?[1] In diesem Tagen steht Meienberg mit Walter Fust, «dem engsten Mitarbeiter von Bundesrat Cotti, in ständigem telefonischem Kontakt». Warum?[2] In einer Sendung des «Radios aktuell» (St. Gallen) rühmt er sich am 9. Februar 1991 «seiner guten Beziehungen» zu Bundesrat Cotti. Warum?[3]

Übrigens: Dass Meienberg – wie er in der damals zur Diskussion stehenden Erklärung drohte – nicht mehr für die WoZ schreiben wollte, war in der Sache bedeutend weniger dramatisch als die Tatsache, dass eben jetzt, auf September 1998, mit rst und mif gleich zwei WoZ-Gründungsmitglieder zur Konkurrenz gehen und bei der Weltwoche Ressortleitungen übernehmen. Trotzdem denke ich nicht mehr daran, Polemiken zu verfassen. So ändern sich die Zeiten.

[1] Diese Episode erwähnt Marianne Fehr, a.a.O., S. 423.

[2] Fehr, a.a.O, S. 428.

[3] Fehr, a.a.O, S. 429.

(13.10.1998; 08+13.11.2017)

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