Geschichten aus dem Café Gfeller

Am traditionellen «Marti-Stammtisch» gibt es stets Geschichten zu hören, auch wenn Kurt Marti nun, müde geworden, häufiger nur noch schweigend dabeisitzt.

1.

L. V. erzählt vom Trub, wo sie aufgewachsen ist. Ihre Familie habe seinerzeit die Schynenalp auf halbem Weg zwischen der Lüdernalp und dem Napf bewirtschaftet. Von ihrer Mutter habe sie gehört, dass eines Tages der Truber Pfarrer bei der Alphütte ihrer Familie Schutz gesucht habe, weil ein Gewitter aufgezogen sei. Richtig sei es kurz darauf mit grosser Wucht losgebrochen und der Pfarrer habe am Küchentisch begonnen, mit den Anwesenden zu beten, der Herr möge das Unwetter vorbeiziehen lassen, ohne Schaden anzurichten. Mitten in die Andacht sei ein Knecht, der noch draussen im Regen zu tun gehabt habe, hereingekommen und habe gesagt: «Hörit uf bätte, s’chunnt Glanz nache!»

2.

A. B. ist im Luzerner Hinterland aufgewachsen und hatte einen illustren Nachbarn: einen alten, adeligen Neuenburger, der von sich behauptet habe, als Jüngling Offizier in der Preussischen Armee gewesen zu sein. Auch im hohen Alter sei dieser Herr zusammen mit seiner Frau bei jedem Wetter pünktlich morgens um halb sechs ausgeritten, und immer hätten die beiden, um auf die Strasse zu kommen, ein niedriges Tor passieren müssen. Der Alte – immer voraus – habe sich auf seinem Pferd unters Tor gebückt, dann angehalten, sich halb umgewendet und seiner Frau zugerufen: «Kopf runter, du Aas!» Diesen Satz habe B. deshalb schon hochdeutsch hersagen können, bevor sie in die Schule gekommen sei.[1]

[1] Dass dieser Herr tatsächlich in der Preussischen Armee gedient hat, kann nicht ausgeschlossen werden. Zwar waren nach dem Neuenburgerhandel (1856/57) Rekrutierungen in der Schweiz ausgeschlossen, weil der preussische König alle Ansprüche auf das Fürstentum Neuenburg verlor. Allerdings lese ich in Bezug auf das neuenburgische «Garde-Schützen-Bataillon»: «Auch nach der Auflösung der Personalunion von Neuchâtel und Preussen verblieb das Garde-Schützen-Bataillon beim preussischen Heer und blieb noch jahrzehntelang eine Anlaufstelle für Schweizer Offiziere, die sich zur Ausbildung oder im Dienstverhältnis in Preussen aufhielten.» Aus A. B.’s Alter zu schliessen wird ihre Episode in den 1950er Jahren spielen. War der Herr um die 80, so wäre es möglich, dass er Ende des 19. Jahrhunderts in Preussen war. Und sonst: Se non è vero, è ben trovato.

(08.07.2012; 24.05.2018)

3.

A. B. über zwei Originale der sechziger Jahre in Bern:

• In der Berner Altstadt habe es eine Frau gegeben, die Ella hiess. Sie habe in einem Abendkleid und silbernen Stöckelschuhen Kugelschreiber verkauft. Daneben sei sie Alkoholikerin gewesen und habe Redewendungen wie die folgende im Repertoir gehabt: «I ha letscht Wuche drü Mau z’Hirni proche.» Ab und zu habe sie von ihrem Sohn erzählt und dann jeweils geschildert, was für ein Guter er gewesen sei. Bloss habe er eine furchtbare Mutter gehabt. Dazu habe sie jeweils eine Fotografie hervorgekramt, die ihren Sohn im Sarg gezeigt habe. Gestorben sei Ella, als sie an den Rindermärit nach Thun gewollt habe: Sie sei dort auf der falschen Seite aus dem Zug gestiegen und von einer entgegenkommenden Lokomotive erfasst worden.

• Auch Theo sei Alkoholiker gewesen und habe eine Zeitlang im Restaurant «Commerce» Wirtshausverbot gehabt. Das habe er ernst genommen und erklärt: «I darf nümm ids ‘Commerce’, i bi dert persona non grappa.» Um ein wenig zu Geld zu kommen, habe er in den Privatgärten der Quartiere Blumen gepflückt und die Sträusse in der Stadt verkauft. Eine Zeitlang habe er auch die an sich öffentlichen Parkplätze der Heiliggeistkirche vermietet. Das sei ihm dann verboten worden, nachdem ein Automobilist mit dem Pfarrer Streit angefangen habe, sicher nicht parkiere er seinen Wagen um, wenn er für den Parkplatz habe bezahlen müssen. Vielleicht sei Theo nicht der Hellste gewesen. Als ihm sein Arzt einmal erklärt habe, er habe vom Rauchen eine dreckige Lunge, habe er selber Abhilfe schaffen wollen, die eine Hand in einen Plastikhandschuh gesteckt und sich so tief in den Rachen gegriffen, dass er ob allem Würgen und Husten den Handschuh verschluckt habe. Er habe dann einen Darmverschluss gemacht und sei deswegen operiert worden. Gestorben sei er auf einer öffentlichen Toilette, auf der er sich, offenbar zum Übernachten, eingeschlossen habe.

(21.7.2012; 22.+24.05.2018)

v11.5