Dichterlesung – Antwort auf eine Anfrage

«Um ehrlich zu sein macht mich Deine Anfrage einigermassen hilflos. Ich habe massive Identifikationsschwierigkeiten mit dem Begriff ‘Autor’; die Vorstellung, ich würde Gedichte vorlesen, ist für mich hochgradig lächerlich; und wenn dann alle im Kreis ihr Lieblingsgedicht vorlesen dürfen sollen, wie Du vorschlägst, dann läuft mir ob dieser drohenden ungebremsten Peinlichkeit schon jetzt der Schweiss ins Hemd, und ich weiss, dass ich eine solche Veranstaltung nie im Leben besuchen würde.

Kommt dazu, dass sich meine nicht-journalistische Spracharbeit zum grossen Teil nicht zum Vorlesen eignet. Ich bin wirklich davon überzeugt, dass es nicht die Aufgabe von Lyrik ist zu kommunizieren. Meine lyrische Spracharbeit hat mit Erkenntnisinteresse zu tun; sie ist sozusagen die Reproduktionsarbeit, die ich ab und zu leisten muss, damit meine Produktionsarbeit am Sprachmaterial, jene der journalistischen Vermittlung, nicht noch hohler wird als sie schon ist.

Diese Arbeit, die ich da mache, hat für mich nichts damit zu tun, ob irgendwelche Verlage Gedichtbände veröffentlichen oder nicht (Dein Diskussionsvorschlag). Ich verstehe mich nicht als Heimarbeiter der Literaturindustrie.»

(08./13.06.1993; 13.11.2001; 20.03.2018)

v11.5