Einen Verlag gründen (aus einem nicht abgeschickten Brief)

«Nach der Lektüre Ihres Textes ist mir wieder einmal durch den Kopf gegangen, dass man eigentlich einen neuen Verlag gründen müsste, der sich um die Ränder des Kulturstandorts Bern bemühen würde (Texte von Randständigen und über sie). Dies nicht nur als Marotte eines von Subkultur Besessenen (der ich vielleicht bin), sondern als Beitrag zur Umwertung der ‘Moderne’ auf dem Platz Bern.

Wieviel international Stromlinienförmiges ist doch seit dem Zweiten Weltkrieg (nicht nur im literarischen Bereich, sondern zum Beispiel gerade auch in der Kunst) viel zu hoch gehandelt worden. Das hat wohl seine Gründe: Alles, was nach starrköpfig Subjektivem, nach dem Gang zum Eigenen, zu den Wurzeln etc. nur von ferne aussah, wurde sofort (und nicht immer zu Unrecht) unter Faschismusverdacht gestellt und diskreditiert (Volkskultur!). Andererseits ist aber gerade deshalb vieles, was als ‘modern’ hochgehalten wurde, hohl, leer und unverbindlich geworden dadurch, dass es dort, wo es entstand, nicht Stellung bezog (sondern höchstens ein wenig die BürgerInnen schrecken wollte und ansonsten auf Kompatibilität mit den selbstreferentiellen Kanonisierungsinstanzen und dem internationalen Markt bedacht war).

Kurzum: Als ich Ihren Essay gelesen hatte, stellte ich mir wieder einmal eine Gruppe kritischer, kulturpolitisch engagierter Leute vor, die die Notwendigkeit einsehen, wöchentlich vielleicht vier Stunden zu opfern in die Diskussion um zusammengetragenes Textmaterial, in Konzeption und Redaktion, in die Satzproduktion (mit den heutigen elektronischen Möglichkeiten problemlos selber realisierbar), in Korrekturlesen etc. So könnte eine Reihe von einfach gestalteten kleinen Büchern zu günstigen Preisen produziert werden – unter Umgehung von Lohnkosten, die eine marktkonforme Kalkulation erzwingen würden. Die Reihe müsste abonniert werden können. So käme das Geld zusammen, das für den Druck der jeweils nächsten Produktion nötig wäre.» Et cetera.

(1993; 02.09.1994; 14.02.2018)

 

Nachtrag 1

Ich erinnere mich, dass dieses Projekt jahrelang in meinem Kopf herumspukte, ohne dass ich je einen Schritt für dessen Realisierung gemacht hätte. Zeitweise trug es für mich den Arbeitstitel «Standort Bern» (mag sein, die freie Churer Theatergruppe «In situ» meinte mit ihrem Namen etwas Ähnliches). Als Beispiel für Texte, die wieder zugänglich gemacht werden müssten, ist mir häufig zuerst die Lyrik von Peter Lehner in den Sinn gekommen.

Klar ist, dass sich die Produktionsbedingungen für ein solches Projekt seit dieser Aufzeichnung von 1993 weiter vereinfacht haben: Unterdessen habe ich dank des Bändchens mit Ueli Baumgartners Lyrik selber Erfahrung mit einer Book-on-Demand-Produktion gemacht[1], die problemlos und qualitativ befriedigend verlief und im Vergleich zum herkömmlichen Buchdruck sehr günstig war. Zu prüfen wäre heute auch eine rein elektronische Präsentation solcher Texte auf einer Homepage mit dem Titel «Standort Bern».

Dass ich wohl weiterhin keine Schritte Richtung Realisierung dieser Idee unternehme, hat Gründe: Einerseits traue ich mir nicht zu, für die Idee tatsächlich eine Gruppe Leute begeistern zu können, andererseits bin ich sehr unsicher, ob für ein solches Projekt überhaupt eine Nachfrage vorhanden wäre, die das beträchtliche und längerfristige Engagement rechtfertigen würde.

[1] Ueli Baumgartner war ein Aktivist des Diskussionskellers «Junkere 37» und ein «nonkonformistischer Keller-Poet». Nachdem er Ende April 2000 verstorben war, engagierte ich mich zusammen mit Niklaus von Steiger und Baumgartners Witwe Karin Kring für eine Publikation mit Texten und Zeichnungen des Verstorbenen. Das Büchlein erschien 2005 bei der Books on Demand GmbH Norderstedt unter dem Titel: Ueli Baumgartner (Georges Ghaby Hay): Gedichte – Gedanken – Zeichnungen.

(25.08.2005; 14.+15.02.2018)

 

Nachtrag 2

Unterdessen, noch einmal rund zwölf Jahre später, ist für mich klar, dass «Standort Bern» auf einer Website präsentiert werden müsste. Konkret läge es nahe, das von der Universitätsbibliothek Bern seit 2012 betreute Online-«Lexikon der Berner Schriftstellerinnen und Schriftsteller» – literapedia bern – weiterzuentwickeln. Heute können dort «biografische und bibliografische Angaben von über 900 Berner Schriftstellerinnen und Schriftstellern» eingesehen werden, rubriziert nach Leben, Werk, Sekundärliteratur etc. Die in der Rubrik «Werk» aufgeführten Titel könnten nach Klärung der urheberrechtlichen Fragen im Einzelfall verlinkt werden mit Retrodigitalisaten von Büchern, Manuskripten oder Typoskripten. So hätte man ein Lexikon, das nicht nur über AutorIn und Werk informieren, sondern gleichzeitig Teile oder das ganze Werk zugänglich machten würde.

Die technischen Möglichkeiten gibt es, ausser wenige hundert Stellenprozente für ein zuständiges Team ergäben sich für die Öffentlichkeit kaum wiederkehrende Kosten, und für Fachleute und Laien wäre ein solches Projekt im Sinn einer demokratischen Literaturkultur ein attraktives Angebot – gerade für Leute auf dem Land, die zwar heutzutage einen Computer, aber weder eine Buchhandlung noch eine Bibliothek in der Nähe haben. Insbesondere die hier und jetzt entstandene Spracharbeit wird via Markt über urbane, subkulturelle Nischen hinaus kaum noch öffentlich. Was heute den medialen Transmissionsruinen als «Literatur» erscheint, ist zumeist Sprache gewordener kulturindustrieller Eskapismus.

Grösstes Problem für ein solches Projekt wäre vermutlich, dass es sich noch lebende AutorInnen nicht leisten zu können meinen würden, ihre Texte freizugeben, weil sie überzeugt sind, auf die Einnahmen aus dem Verkauf ihrer Bücher nicht verzichten zu können. Dabei weiss jedes Kind, dass ein regional produziertes literarische Werk, das mehr als einen einzigen gewerkschaftlich geforderten minimalen Monatslohn von 4000 Franken einspielt, bereits zu den zehn Prozent der bestverkauften gehört. Mit dem Bücherverkauf können nicht mehr als zwei bis drei von hundert AutorInnen ihre Existenz sichern. Warum also weiterhin so tun, als wäre der Buchmarkt für die Literatur nötig?

(14.02.2018)

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