Was zwischen den Wörtern liegt

«sprachmaterial ist lebendige sprache, deshalb ist es nicht steril, wertfrei, ‘objektiv’, sondern steht begriff für begriff in gesellschaftspolitischen spannungsfeldern und unterliegt wort für wort dem kampf um die konnotationen.»[1] Mit diesem dynamischen Begriff der Sprache bin ich einem Gedanken in Max Horkheimers «Spänen» nahe gekommen: «Die Wahrheit, ebenso wie jeder Begriff, ist nichts Festes, das man aufschreiben und festhalten kann. Beide sind in fortwährender Bewegung. Da die Wahrheit das Ganze ist, ist die Stellung jedes Begriffes im Ganzen ebenso wie sein Inhalt dauernden Veränderungen unterworfen.»[2]

[1] Was sind poetische Konstellationen?, in: Konvolut, 1989, S. 238.

[2] Max Horkheimer: Späne, Gesammelte Schriften Bd. 14, Frankfurt am Main (Fischer) 1988, S. 229.

(01.05.1989)

 

Nachtrag 1

Was die Wahrheit betrifft, bin ich nicht mehr Horkheimer Meinung. Wahrheit sei «das Ganze», schreibt er. Da er über Begriffe, also über Sprache nachdenkt, sagt er, Wahrheit sei das Ganze der Sprache. Was heisst das? Abstrahiert von allem Überbau ist das Ganze der Sprache die Sammlung der Wörter mit Erklärungen zu ihrer Herkunft und ihren aktuellen Bedeutungen, wie sie zum Beispiel der Duden bietet. Was soll daran «Wahrheit» sein?

Ich pflichte Horkheimer bei, dass jede Wahrheit, die sich auf ein starres, dogmatisches Gerüst von Begriffen stützt, falsch ist – oder genauer gesagt: mit der Zeit immer falscher wird. Ich meine zudem, dass ohne Wahrheiten – also ohne Gewissheiten, die das Chaos erst zu jener Welt strukturieren, in der man als ihr Mittelpunkt zu leben versucht – niemand zu leben fähig ist. Weil Wahrheit nicht das Ganze (der Sprache) sein kann, behaupte ich, dass sie sich als subjektive Gewissheit ausserhalb der Sprache konstituieren muss.

Wäre demnach Wahrheit das, wovon man sich nach Luther «kein bildnis noch irgent ein gleichnis machen» soll, weil es in der Sprache nicht kongruent abbildbar ist? Wenn es so wäre, würde das Bedürfnis nach Wahrheit allerdings einen Glauben notwendig machen an das Unaussprechbare ausserhalb des sprachlichen Universums.

So gesehen wäre der Begriff «Gott» eine Metapher für Wahrheit und die Operation der Metaphorisierung wäre die, das unausweichlich jederzeit Bedingte zum Unbedingten umzulügen.

(3.7.1997; 24.01.2018)

 

Nachtrag 2

Unterdessen bin ich nicht mehr der Meinung, dass Wahrheit als das Unaussprechbare ausserhalb des sprachlichen Universums zu suchen sei. Wohl mag Wahrheit das Unaussprechbare sein – aber es ist das Unaussprechbare innerhalb des sprachlichen Universums. Die Wahrheit liegt wohl tatsächlich zumeist irgendwo zwischen den einzelnen Wörtern, die in diesem Universum so vereinzelt stehen wie die Sterne am Himmel.

Übrigens habe ich im gleichen metaphorischen Bild an anderer Stelle versucht, Wahrheit als das Aussprechbare innerhalb der Sprache zu beschreiben: «Wahrheit innerhalb der Sprache denke ich mir als die Sonne eines Zentralbegriffs, die vom Planetenfeld einer Wörterkonstellation umgeben sein muss, um als Wahrheit zu erscheinen.»

Vor dem offenen Widerspruch zwischen den beiden Formulierungen rettet bloss eine Nuance: Innerhalb der Sprache kann Wahrheit «erscheinen», also Schein von etwas ausserhalb der Sprache Liegendem sein.

(24.+31.01.2018)

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