Du sollst dir ein Bildnis machen

 

«Der Tod verbirgt kein Geheimnis. Er öffnet keine Tür. Er ist das Ende eines Menschen. Was von ihm überlebt, ist das, was er anderen Menschen gegeben hat, was in ihrer Erinnerung bleibt.» (Norbert Elias) [1]

Taufe meiner Nichte M. in Langenthal. Der Pfarrer ist ein ehrlicher Mann und ein geschickter Redner, er beherrscht eine einfache, klare Sprache: «Gott füert und leitet üs. Mir ghöre Gott, mir dörfen is a ihn wände. Mir sy Gottes Volch. Gott isch üsi Zueversicht.» Und so weiter. Während ich zuhöre, ersetze ich den Begriff «Gott» simultan mit dem Wort «Nichts». Von der Wirkung bin ich betroffen: Wie ein Blitzschlag über unendlichem Abgrund scheinen undenkbar gemachte Wahrheitstrümmer auf. «Nichts» wird zu «Gott», damit der Modus des Glaubens möglich wird. Der Glaube als der Preis, den die Menschen für die verbotene Frucht vom Baum der Erkenntnis bezahlt haben. Erst weil Bewusstsein und Erkenntnis entstanden sind, hat Glaube entstehen müssen. Erst im Augenblick, da ich etwas weiss, ist es mir möglich, Grenzen erkennen zu können, Grenzen des Wissens, Grenzen der eigenen Existenz. Erkenntnis und Glaube sind zwei Seiten einer Entwicklung.

Den Kirchen, diesen monströsen Konditionierungsanstalten der Menschen, diesen interkontinentalen Ideologieproduktionskonzernen, ist dabei immer schon die Aufgabe zugefallen, in den Köpfen und Herzen der Menschen die Angst vor der Leere durch die Behauptung eines Gottes zu ersetzen und die Begriffskongruenzen von «Leere», «Nichts» und «Gott» zu tabuisieren.

Damit kann die Sinnlosigkeit, die sich aus der Erkenntnis der Unausweichlichkeit des eigenen Todes ergibt, unter Kontrolle gebracht werden. Und so dient Glaube der psychischen Entlastung. Das grösste existentielle Problem des Menschen, das bewusste Dem-eigenen-Tod-Entgegengehen, wird umgedeutet in jenes, ein – im Sinne der herrschenden moralischen und gesellschaftlichen Normen – möglichst unbescholtener und also «guter» Mensch zu werden, zu sein und zu bleiben und dadurch in ein jenseitiges Paradies zu gelangen. Wie von «Gott» anstatt vom «Nichts» geredet wird, wird «Paradies» gesagt, wo «Tod» gemeint ist.

Ein todsicherer Zauberkünstlertrick, den ein gläubiger Mensch erst in dem Augenblick durchschauen könnte, in dem er es nicht mehr kann, weil er tot ist. Die Wahrheit, die hinter dem Trick auch aufscheint: Menschen werden von anderen Menschen durch den Zwang zur entfremdeten Arbeit um ihre Lebenszeit betrogen. Darum lassen die Herren diesen Betrug zuhanden der Knechte mit Kompensationsrhetorik zur Glaubenswahrheit umdeuten: Du musst zwar hier den Knecht machen, aber dafür kommst du dann in den Himmel. Weltliche Macht hat von der kirchlichen immer wieder die Neuformulierung dieses schäbigen Tricks verlangt, auch wenn selbstverständlich daneben wahr ist, dass es immer theologisches Engagement gegeben hat zur Linderung menschlicher Not. Dieses Engagement respektiere ich. Bloss: Wozu braucht es für ein solches Engagement Theologie? Und was hilft Mitleid, das die Knechte in ihrer Rolle stabilisiert, wo Mitgefühl gebieten würde, die Knechte zu lernen, keine mehr zu sein?

Ich rede hier von der Religion als Herrschaftsideologie: Die Menschen, die durch ihre Arbeitskraft die soziale Welt reproduzieren, werden durch eine Lüge von ihrer Angst vor dem Tod entlastet. Die dadurch freiwerdenden Energien fliessen in den entfremdeten Dienst für diesseitige Interessen. Diese Tatsache ist ein Motor des Zivilisationsprozesses: Erst die tabuisierte Ersetzung des «Nichts» durch «Gott» – nach Luther: «Du solt dir kein bildnis noch irgent ein gleichnis machen» (2. Mose 20,4) – hat es den Menschen durch die Jahrhunderte hindurch als gottgewollt erscheinen lassen, für Kost, Logis und in besseren Zeit für ein Trinkgeld darüber hinaus grundsätzlich lebenslänglich am Bau der babylonischen Türme mitzuwirken und sich dafür sonntags – während der Reproduktion der eigenen Arbeitskraft – Gedankenschweres über Erstermoseelfeinsbisneun anzuhören.

Nur wer «Gott» bewusst durch «Nichts» ersetzt, ist für jene verloren, die Lebensunterhalt bieten für Lebenszeit. Lebenszeit ist, angesichts des Wissens um das eigene Ende, unendlich viel wertvoller als der angebotene Gegenwert für entfremdete Arbeit. Aber klar, leisten können sich das die wenigsten. So muss es sein, so soll es bleiben. Zum Glück gibt’s das Paradies. Der Rest wäre Politik (nicht reformistische).

[1] Zitiert nach Didier Eribon: Michel Foucault. Frankfurt am Main [suhrkamp] 1993, S. 11.

(30.04.1989, 28.06.1997; 23.+30.01.2018)

v11.5