Im Schlagschatten der Wörter

Alle Begriffe sind frag-würdig. Jeder einzelne Begriff kann in Frage gestellt, kritisiert und neu verstanden werden. Dies setzt aber eine diesen Begriff umgebende Sprache voraus, deren Begriffe als bekannte, nicht in Frage gestellte und deshalb stabile Grössen gesetzt werden. Eine Sprache, deren Begriffe alle gleichzeitig und gleichermassen frag-würdig, das heisst instabil wären, würde, je nach Kontext, als «dadaistisch», «hermetisch» oder «irr» rezipiert werden. Weil demnach Kritik im Wörtergeflecht immer nur einzelne Begriffe meinen kann, werfen die gesetzten, unveränderlichen, kritisierenden Wörter des Sprachumfelds aporetische Schlagschatten. Mag sein, es gibt Methoden, sie klein zu halten – eine schattenlose Sprache jedoch ist sowenig denkbar wie ein schattenloser Mensch.

Je heller einzelne Begriffe in das Licht kritischer Befragung gehoben werden, desto dunkler werden im umgebenden Sprachfeld die Schatten. Darum läuft grundsätzlicher Widerspruch tendenziell immer Gefahr, dogmatisch zu werden: Während man die entscheidenden Termini in möglichst grellem Licht befragt, verschattet sich das umgebende Sprachfeld in immer dunklerer Nacht der Unhinterfragbarkeit.

Wahre Worte – um die sich Gläubige scharen – liegen immer im Schlagschatten grell beleuchteter frag-würdiger Begriffe, über die geredet wird, gerade weil sie eigentlich nicht gemeint sind. Darum sind die Sprachen der Gläubigen stets uneigentliche Sprachen.

In dem Mass, in dem man aus dem Schatten wahrgesetzter Wörter tritt und sie durch die Veränderung der eigenen Position selbst frag-würdig macht, wird man zum Häretiker. Häresie setzt einen wachen Geist und den Willen voraus, die nicht befohlenen Wege zu gehen. Zum rechten Glauben reicht es, als Schafsnatur im Schlagschatten eines Dogmas zu grasen.

(14.2.1992; 13.10.1998; 22.+29.01.2018)

 

Nachtrag 1

Jedoch: Häresie verhindert Irrtum nicht. Sie ermöglicht bloss das Erkennen der Irrtümer von Schafsnaturen.

(14.2.1992; 13.10.1998)

 

Nachtrag 2

Saftige Weidegründe: Der Herr ist mein Hirte. Ich blöke mit.

(15.8.1991)

v11.5