Paul Nizons Ich-Dekonstruktion

Im belletristischen Feld repräsentiert Paul Nizon die Absolutsetzung des Ichs als Wahrnehmungsmonade und alleinige Instanz mimetischer Weltspiegelung wie kaum ein anderer. Dass Nizon in den 1950er Jahren Kunstgeschichte studiert und in den 1960er Jahren als Kunstkritiker für die NZZ gearbeitet hat, ist in diesem Zusammenhang interessant: Er kannte damals im Bereich der Kunst die ästhetischen Wege in die Abstraktion und – so meine These – er erkannte, dass diese Entwicklung im Bereich der Spracharbeit zur Dekonstruktion des Subjekts und damit zu einer neuen Möglichkeit einer belletristisch-mimetischen Schreibweise führen könnte.

In der Folge setzte sich Nizon radikal als mimetische Monade. Seine Lebensgeschichte, hat er gesagt, sei sein «einzig verfügbare[s] Stoffreservoir». Er greife «auf die eigene Ich-Geschichte zurück im Sinne von Materialien, die wieder ans Licht gezerrt werden wie eine Archäologie, … um sie am Licht neu zusammenzusetzen, d.h. neu in ein Ganzes zu strukturieren. Das sind alles eigentlich Widersprüchlichkeiten meines Denkens und Schreibens. Auf der einen Seite die Unerzählbarkeit des Lebens, auf der anderen Seite keinen anderen beglaubbaren Stoff als die eigenen Erfahrungspartikel zu besitzen, zur Verfügung zu haben, und mit diesen Materialien mir sowohl ein Ich wie auch ein Leben zuzuschreiben.»

Diese Erzählposition spiegelt die soziologische Tatsache der zunehmenden Atomisierung der Gesellschaft. Wo Journalismus unterdessen industriell hergestellte gesamtgesellschaftliche Eingemittetheit produziert, wird einem Erzähler wie Nizon der Weg vom Ich zu einem Du zur Utopie. Seine Perspektive sagt: Niemand kann heute noch so sprechen, als hätte er über sich hinaus etwas zu sagen. Sogar «Ich» zu sagen, ist zum kaum mehr erfüllbaren Anspruch geworden. Hart am Zerfall einer gesamtsujektiven Sicht kann mit Erfahrungspartikeln «Ich» gerade noch soweit rekonstruiert werden, dass ihm – also sich selbst – «ein Leben zugeschrieben» werden kann.

Wie lange noch? Und was heisst Mimesis in der belletristischen Spracharbeit danach?

[1] Paul Nizon: Das Drehbuch der Liebe, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 2004, S. 263.

(bis 11.11.2012; 09+18.01.; 16.07.2018)

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