Brief an Fritz Widmer

Bern, 12. April 2007

Lieber Fritz

Danke für den Brief über Deine «Echsenland»-Leseerfahrung. Er ist die erste persönliche Reaktion auf dieses Buch, die nicht oberflächlich und/oder hilflos wäre – was an keine Adresse ein Vorwurf sein soll. Mein Buch macht ja tatsächlich wenig Konzessionen und ich habe Verständnis dafür, dass man daran scheitern kann und über diese frustrierende Leseerfahrung schweigen will. Immerhin habe ich für die Buchform eben schon Konzessionen gemacht, zum Beispiel habe ich ein knappes Drittel des Materials aus Platzgründen gestrichen – aber nicht nach dem Kriterium der leichteren Verstehbarkeit, das stimmt. Der Preis, den diese relative Konsequenz gekostet hat: Wie gesagt kaum persönliche Reaktionen; ausser drei alles in allem freundlichen Rezensionen (WOZ, Bund, NZZ) nur einige uninteressante Erwähnungen; und das letzte Wort hat ja bei der Ware Buch sowieso der Markt und der sagte folgendes: Das Buch erschien Anfang Mai 2005. Verkaufte Exemplare bis und mit 31.12.2005: 212 inklusive Direktverkauf an der Vernissage. Verkaufte Exemplare 1.1.2006 bis 31.12.2006: 0. Auf einem Tablar hier im Büro stehen noch 5 Belegexemplare, von denen ich nicht wüsste, wem geben. Und der Verlag, der Geld draufgelegt hat, sitzt auf dem Rest der Auflage.

Deine Frage ist die richtige: «Aber geht es Fredi überhaupt um so etwas wie ‘wirksam’?» Wirksam sein durch Texte heisst «veröffentlichen», dadurch Leute erreichen und sie mit den Texten in irgendeiner Weise überzeugen resp. beeinflussen wollen. An der Frage, ob ich das tatsächlich will, arbeite ich mich seit langem ab.

Ich bezeichne mich am liebsten als «freier Journalist», verstehe mich aber als Spracharbeiter, der schreibt, was er muss, um leben zu können und darüber hinaus schreibt, was ihm aus verschiedenen Gründen nötig erscheint. Dabei produziere ich aus meiner Sicht grundsätzlich zwei verschiedene Textsorten: solche, in denen das Vermittlungs- und solche, in denen das Erkenntnisinteresse zentral ist. Zur ersten Textsorte gehört die ganze journalistische Tagesarbeit (aber zum Beispiel auch die «Einführungen», «Editorials» und «Anmerkungen» in den C. A. Loosli-Werkbänden, die ich vorformuliere, Erwin Marti danach inhaltlich kritisiert und ich entsprechend redigiere); zur letzteren gehören für mich die lyrischen Versuche. Insofern will ich mit Gedichten nicht zuerst «wirksam» sein, sondern ich betreibe eine Art Selbstaufklärung, die ich als Angebot zur Kenntnisnahme anderen vorlege.

Aber muss man denn solche Texte tatsächlich in ein Buch bringen? Das ist eine berechtigte Frage. Wie Du weisst, reibe ich mich (als Lyriker) deshalb an der Buchform:

• Als ich 35 war, tat ich folgendes: 1989 habe ich ein Nichtbuch veröffentlicht, das vier Gedichtzyklen zusammenfasste. Ich nannte es «Konvolut», gab dem Gestalter den Auftrag, lauter Unikate herzustellen und dadurch die Warenästhetik des Produkts zu brechen. Danach brachte ich rund 470 Exemplare unter die Leute, und zwar nicht als Geschenk, sondern zum Preis von 0 Franken. Das Ganze war mit einer Einleitung versehen, das diese Unvernünftigkeit vulgärmarxistisch-dadaistisch begründete. Realpolitisch gesprochen handelte es sich um eine vollständig selber finanzierte Produktion im Selbstverlag (Kostenpunkt: rund 12000 Franken – da steckte viel WoZ-Schweiss drin), deren Auflage ich mit ziemlich viel moralisierenden Schwulst einem Publikum aufnötigte, das dadurch zu einer Art unfreiwilligen Subkultur zusammengeschweisst wurde, die nur für mich allein existiert(e).

• Als ich 50 war, gab ich die Gedichte, die danach zusammengekommen waren, als reguläres Buch heraus, eben «Echsenland».

• Wenn ich gesund bleibe und nichts Besseres zu tun habe, werde ich mich mit 65 noch einmal zu Wort melden, dannzumal wieder – so sehe ich das heute – nicht mehr mit einem regulären Buch, sondern mit der Weiterentwicklung der «Konvolut»-Idee, die ich «Protobuch» nenne.

Zum Protobuch setze ich voraus: Die Sache mit der regulären Buchproduktion von eigener Lyrik habe ich jetzt gesehen. Sie ist unter kommerziellem und kommunikativem Gesichtspunkt nicht weiter interessant (eine Ausnahme ist tatsächlich Dein Brief). Zudem unterwirft sie sich a priori – (was ich schon zuvor wusste) – einem für jede Kulturarbeit verhängnisvollen Diktat: Sie akzeptiert als Voraussetzung, dass es keine «Veröffentlichung» geben kann, die nicht «Vermarktung» ist. Verhängnisvoll ist das nach zwanzig Jahren Neoliberalismus insbesondere deshalb, weil dieser die Gesellschaft ideologisch und real umbaut, indem er «Öffentlichkeit» immer ausschliesslicher zu «Markt» macht, «StaatsbürgerInnen» immer ausschliesslicher zu «KonsumentInnen» und das «Gemeinwesen» immer ausschliesslicher durch ein Shoppyland ersetzt, das bereits heute bis weit über die Landes- und Hirngrenzen hinausreicht.

Vor diesem Hintergrund sehe ich das «Protobuch». Es sieht wie folgt aus (ich weiss das so genau, weil ich unterdessen in meiner Freizeit bereits am dritten arbeite). Protobuch 1: Kolumnen 2000-2005; Protobuch 2: ein umfangreicher, aus essayartig-fragmentarischen Stücken gebauter Text zur Hälfte meines Lebens, «Mezzo del cammin», 1994; Protobuch 3: Ein mehr als 200seitiges Fragment zu meiner Poetik: «Ohne eigene Sprache» – theoretische Voraussetzung zum «Konvolut», 1986. Formal besteht das Protobuch aus elektronisch erfasstem Textmaterial (inklusive aktuellen Anmerkungen, wo nötig) in einer Worddatei, dargestellt in satzspiegelartigem Umbruch (Simulation einer «Buch»-Kulisse); der PC-Ausdruck ist ringgeheftet, und auf den rückseitigen Kartondeckel ist in einem aufgeklebten und verschlossenen Couvert eine CD beigefügt, auf die die elektronischen Daten des Textmaterials gebrannt sind. Im Ganzen also tatsächlich ein «Protobuch», aus Sicht des Autors (also meiner) quasi gut zum Druck.

Soweit die «funktionale» Seite des Projekts. Die «dysfunktionale»: Die Auflage des Protobuchs beträgt ein Exemplar (dazu gibt es ein zweites Exemplar, das als Arbeitsexemplar auf meinem Büchergestell bleibt). Sobald ich drei Protobücher fertig habe, werde ich dem Schweizerischen Literaturarchiv folgendes Angebot unterbreiten: a) Ich übergebe Euch im Sinn eines «Vorlasses» diese drei und alle folgenden Protobücher inklusive sämtlichen Zusatzmaterialien (Entwürfe, Notizen, Fassungen) als Geschenk. b) Ihr behandelt dieses Material gleich wie alle anderen Archivalien: Insbesondere macht ihr sie im Rahmen Eurer Regeln im Lesesaal zugänglich, falls sie jemand einsehen will (nach den Regeln des SLA gilt als «veröffentlicht», was im Lesesaal aufgelegt wird). c) Darüber hinaus garantiert ihr folgendes: 1) Protobücher dürfen von niemandem integral fotokopiert werden (zu Studienzwecken sind Kopien von höchstens 10 fortlaufenden Seiten gestattet); 2) Die verschlossen beigelegten elektronischen Daten dürfen von Lesesaalbesuchenden nicht kopiert werden (auf ein mitgebrachtes Laptop zum Beispiel); dem SLA selber ist es aber unbenommen, nach Massgabe der archivarischen Sorgfaltspflicht die Daten auf einer SLA-internen Festplatte zu sichern (oder das sein zu lassen und die CD ausschliesslich als Symbol eines Datenträgers zu behandeln, bis dieser in einigen Jahren nicht mehr lesbar sein wird) 3) Das Copyright liegt bis zu meinem Tod bei mir, für die Zeit nach meinem Tod verfüge ich (hier wird mir ein Urheberrechtler helfen müssen bei der korrekten Formulierung) das längstmögliche vollständige Druckverbot des Materials; nach Ablauf dieser Frist soll ausschliesslich die Eidgenossenschaft selber das Recht haben, den Druck eines Protobuches zu veranstalten (was diese, wie ich zuversichtlich annehme, nie tun wird).

Der kulturpolitische Sinn der Übung: Das Protobuch steht als Symbol dafür, dass weiterhin um eine Welt gekämpft werden soll, in der «Veröffentlichung» etwas Anderes und mehr ist als «Vermarktung». Protobücher sind insofern die Erinnerung an eine andere Zukunft (neben allem anderen, was in ihnen tatsächlich geschrieben steht und im SLA-Lesesaal eingesehen werden kann. Hier stelle ich mich übrigens auf den Standpunkt, dass Protobücher auch dann «veröffentlicht» sind, wenn nie jemand um die Einsicht in ein solches Buch ersuchen wird. Darum werde ich für die Protobücher auch nicht Werbung machen, sondern bloss, wenn es mir passend erscheint, gegenüber Leuten meines Vertrauens von ihnen sprechen – zum Beispiel gegenüber Dir hier).

Übrigens gehen mir die Ideen für weitere Protobücher so schnell nicht aus, weil ich neben der WoZ (die jetzt WOZ heisst) immer wieder für die Schublade geschrieben habe, viel Tagebuchartiges, aber auch anderes. Zwei weitere Protobücher liegen mir besonders am Herzen: Einerseits habe ich etwa 320 Texte im Umfang von einigen Zeilen bis einigen Seiten (1989-2005), die ich «Werkstücke» nenne und zu einem Nichtganzen («Stückwerk») zusammenbauen will (formal am ehesten vergleichbar mit Ludwig Hohls «Notizen»). Für die Montage werde ich mich irgendeinmal etwa drei Monate lang ausklingen müssen, weil ich da meine ganze («kompositorische», wie Du vielleicht sagen würdest) Konzentration brauche (also erst nach dem Frühjahr 2009 machbar, wenn das Loosli-Projekt voraussichtlich zu Ende geht). Und das andere Protobuch ist eben das dritte Lyrikprojekt, das, wenn überhaupt, 2019 fertig wird.

Du fragst: «Aber geht es Fredi überhaupt um so etwas wie ‘wirksam’?» Ich halte mich an Hölderlin: «Schlafend wächst des Wortes Gewalt.» Es reicht mir völlig, wenn etwas von mir her gedacht und gesagt ist und mir bei dieser Arbeit niemand im Weg steht – mein Problem darüber hinaus ist nur noch, dass ich materiell über die Runden komme und mein engstes soziales Netz – insbesondere meine Partnerin H. – mit meiner Lebensweise nicht ernsthafte Probleme bekommt.

Wichtig ist mir, dass Du jetzt nicht denkst, ich sei wegen «Echsenland» frustriert und schreibe nun aus Verbitterung so ein bisschen radikal klingendes Zeug untereinander. Tatsächlich hat die Protobuch-Idee in mir einen Schub von Entlastung und Arbeitsfreude ausgelöst: Schreiben zu dürfen, ohne «veröffentlichen», d. h. «vermarkten» zu müssen – was könnte es Schöneres geben? Ich will ja über meine erkenntnisinteresse-zentrierten Texte mit niemandem diskutieren, weil ich nicht Recht haben will. Mir genügt es vollständig, immer wieder, wo ich es für nötig halte, zu sagen: Du hast auch nicht recht. Und das tue ich am liebsten nur mir selber gegenüber, weil ja auch ich nicht recht habe. Anders ist es mit dem Journalistischen oder dieser Begert- und Mueller-Geschichte, dort geht’s aber eben um Vermittlung, also letztlich auch um Markt, Beruf, Lohn etc.

Nun fragst Du auch noch: «What do you really like?» Ach, weisst du, ich bin nach zwanzig WoZ-Jahren für dieses Leben geheilt, missionieren zu wollen. Im Moment wirklich gern habe ich die Idee des Protobuchs (vielleicht gefällt sie mir plötzlich nicht mehr, dann such ich mir eine andere). Und eine schöne Idee zu haben, ist schon ziemlich viel, finde ich.

Ich habe mich sehr gefreut über Deinen Brief und hoffe, Dich mit diesen etwas länglichen Ausführungen nicht gelangweilt zu haben.

Eine gute Zeit und ebenso herzliche Grüsse zurück

Fredi

Aus diesem Brief geht hervor, dass ich damals der Meinung war, drei Protobücher vorzubereiten und dann den Kontakt zum Schweizerischen Literaturarchiv aufzunehmen und mein Angebot vorzutragen. Das habe ich aber in der Folge nie gemacht. (07.08.2017)

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