Ex-territoriale Kultur

Meine These lautet: Die nonkonformistische Subkultur, wie sie sich hierzulande nach 1945 gegen die Erstarrung der Geistigen Landesverteidigung allmählich entwickelte und im Nachgang zum Aufbruch von 1968 in vielfältigen sub-, anti- und gegenkulturellen Konzepten öffentlich diskutiert wurde, ist mit dem historischen Einschnitt von 1989 entweder verschwunden oder sie radikalisiert sich zu «ex-territorialer Kultur». Das primäre Kriterium einer solchen Kultur ist nicht, ob sie ihrem ästhetischen Arbeitsmaterial die historisch avancierteste Technik wohlgefällig angedeihen lässt oder dem Kanon aufklärerischer Kritik engagiert dient – das Kriterium ist ihre Position zum Markt. Ex-territoriale Kultur steht ausserhalb des Marktes.

Ex-territoriale Kultur ist so gesehen eine Weiterentwicklung und Radikalisierung der Subkultur seit 1945. Sie ergibt sich nicht aus irgendeinem subjektiven Wollen, sondern aus der historischen Zeitenwende von 1989. Bis dahin hatte die Kulturproduktion dieses Jahrhunderts unter kapitalistischen Bedingungen immer auch ein strategisches Moment: Sie pflegte einen kritisch-emanzipativen Diskurs mit der Option auf eine bessere Welt, die man in einem utopischen «demokratischen Sozialismus» aufgehoben sah. Dabei solidarisierte man sich strategisch – trotz Diktaturen und stalinistischem Staatsterror – mit dem realexistierenden Sozialismus: Man war weniger dafür, als gegen jene, die aus antikommunistischen Gründen dagegen waren.

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Dieses strategische Moment der Kulturproduktion wurde mit Mauerfall, Zerfall des Ostblocks und Auflösung der Sowjetunion obsolet. Damit gab es kein objektives Interesse mehr, aus Gründen des Kampfs um die ideologische Hegemonie auf dem Kulturmarkt weiterhin präsent zu sein. Konnte man sich zuvor zumindest noch einbilden, auf ein grundsätzlich gesellschaftskritisches Ziel hin zu arbeiten, ist dies heute nicht mehr möglich: Wer sich heute auf den Kulturmarkt begibt, zelebriert den kulturellen Gottesdienst des monotheistisch gedachten freien Markts.

In dieser historischen Situation lautet die Ausgangsfrage: Welche Kulturproduktion macht hier und heute überhaupt Sinn? Antwort: Eine Kultur, die in jedem Fall genau dort aufhört, wo der Markt anfängt, mit dem Ziel, das lange vor dem Kapitalismus entstandene und an seinen Rändern weitergereichte Wissen zu tradieren, dass ein sozial und ökologisch nachhaltiges Leben ausserhalb des kapitalistischen Warenmarktes vorstellbar und lebbar sei.

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Aber wie sähe eine solche Kultur aus? Ex-territoriale Kultur wäre – wie vor der Zeit der umfassenden Vermarktung von kultureller Produktion – ein Überschuss der täglichen Arbeit. Sie wäre eine Vertiefung, Formung und Gestaltung eigener Lebenserfahrung zur Verwesentlichung der Kommunikation innerhalb des eigenen sozialen Netzes (also sicher auch eine Kultur gegen die patriarchale Allmachtsphantasie einer «Weltkultur» im Sinn von Goethes «Weltliteratur», die in der heutigen Praxis nie etwas anderes meint als den möglichst grossen Marktanteil). Diese Kultur wäre stärker verwoben mit dem Alltag, in dem sie entsteht. Ihr Zweck wäre kommunikativer Austausch in einem direkten Sinn mit jenen, die es tatsächlich angeht – also nicht doppelt vermittelt über die Warenform und über anonym kontrollierte, technologiegestützte, Öffentlichkeit mehr simulierende als bedeutende Kommunikationskanäle.

Ex-territoriale Kultur würde nicht mehr hergestellt von egomanen SpezialistInnen, die ausserhalb der sozialen Zusammenhänge möglichst international herumgereicht werden können. ProduzentInnen von ex-territorialer Kultur würden die Rolle verweigern, Rädchen zu sein in einer extrem arbeitsteilig gewordenen Welt. Ex-territoriale Kultur wäre demnach unvernünftig auf breitester Front. Ihre Hauptschwierigkeiten bestünden vermutlich darin, trotz der fehlenden Anerkennung der «Fachwelt» und trotz des wohl nicht immer erfolgreichen Lavierens zwischen den Widersprüchen (das Rad der Zeit lässt sich nicht zurückdrehen) weiterzumachen, weiterzugehen. Ihr Fortschreiten wäre ziellos oder zumindest nicht-teleologisch, ein Torkeln und Tanzen zwischen Paradoxa und Widersprüchen, aber auch: ein permanentes, sich erneuerndes, möglichst unübersehbares schwarzes Loch im Universum des Markts.

Aber wie sähe eine solche Kultur konkret aus? Es stimmt, es gibt ganze Kunstgattungen, deren Produktion derart technologie- und infrastrukturintensiv sind, dass Werke ausserhalb eines kommerzialisierten Rahmens nicht realisierbar wären (zum Beispiel Architektur, symphonische Musik, grosses Schauspiel, Film etc.). Nicht jede Gattung eignet sich demnach, Teil ex-territorialer Kultur zu sein. Letztere denke ich mir deshalb antagonistisch zu jener Kultur, die die jeweiligen Herrschaftsverhältnisse repräsentieren soll. Die Leistung ex-territorialer Kultur ist es, kreative Kommunikation zu bieten, ohne sie als Ware zu verkaufen. Ihr Darbietungsform ist tendenziell prozessförmig.

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Zur Grenzlinie zwischen Marktkultur und ex-territorialer Kultur. – Es gibt immer eine hegemoniale Kultur, die von den gesellschaftlich dominierenden Kräften ausgehalten wird. Hier und heute steuern diese Kräfte in der Schweiz – politisch repräsentiert durch die Zauberformel-Konkordanz – ihren Kulturbetrieb einerseits über private Beiträge (Sponsoring, das sich grosso modo um Kulturwaren mit Nachfrage kümmert), andererseits über staatliche Beiträge (zuständig für die unrentablen Kulturprodukte in jenen Bereichen, in denen Aufwand und Ertrag oder Angebot und Nachfrage in einem betriebswirtschaftlich uninteressanten Verhältnis stehen).

Abgedeckt wird so rentierende und nicht rentierende Kulturproduktion – vorausgesetzt, sie führt zu warenförmigen Ergebnissen. Nicht in Betracht als förderungswürdig kommen jene Produktionen, die im Endergebnis Warenförmigkeit verweigern respektive sich prozesshaft fortentwickeln, ohne sich in verwertbaren Formen zu verfestigen. So ist strukturell dafür gesorgt, dass vor allem das, was Ware wird, als Kunst und damit als Beitrag zum Kulturschaffen wahrgenommen wird.

AAndersherum: Ob etwas Kultur ist oder nicht, kann nicht am Markt vorbei entschieden werden. Unter den jetzigen gesellschaftlichen Bedingungen ist der Markt die Conditio sine qua non für das, was öffentlich als Kultur gilt. Ex-territoriale Kultur taucht dagegen nur am Rand und als eigenbrötlerische, privatistische Rechthaberei auf. Kultur ohne Markt entspricht hier und heute einem Leben ohne Gott in einer theistischen Welt.

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Wenn es stimmt, dass sich die gesellschaftlich dominierenden Kräfte ihre Kultur halten, indem sie sie sich kaufen und so ihren Marktwert pflegen, dann muss auch stimmen, dass diese Kräfte mit dem Markt die Grenzlinie festlegen zwischen Kultur und Nicht-Kultur. Andere Kriterien sind nachgeordnet. Insbesondere simuliert der Feuilletonismus seine Funktion als ästhetische Triageinstanz nur – Feuilletonismus ist grundsätzlich Public Relations und dient der Kulturwarenanpreisung an die interessierte Öffentlichkeit. Es geht um die Steuerung der ästhetischen Vorlieben von KonsumentInnen: Ästhetisch relevant ist, was verkauft werden soll.

Andere Positionen dürfen vertreten werden. Aber in einem ernsthaften Sinn ästhetisch argumentiert wird sowieso nur in akademischen Fachzirkeln, weil der Rest der Welt von dieser Sache einfach nichts versteht. Auch die Kulturschaffenden in aller Regel nicht. Sie haben ja auch andere Probleme, sie müssen Produkte herstellen, die als marktgängige Waren taugen. Die einzige Ästhetik, die für ihr künstlerische Fortkommen relevant ist, ist deshalb die Warenästhetik.

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Der Satz: Jedes öffentlich rezipierbare Kulturprodukt ist eine Ware, formuliert heute sozusagen eine Naturgegebenheit von der Art: Überall, wo Wasser ist, ist es nass. In dem Mass, in dem dieser Satz stimmt, stimmt aber auch, dass sich öffentlich rezipierbare Kultur qualitativ nicht unterscheidet von einer Friedenstaube aus Plastik oder einem Kalaschnikow-Gewehr – umsomehr als sich heute beides zu einem absurd überhöhten Preis auch in Kunstmuseen finden wird. Wird der Gebrauchswert liquidiert, damit der Tauschwert explodiert, wird zweifelsfrei Kunst generiert.

Ansonsten verhält sich Kunst wie jede andere Ware auch zum Markt restlos affirmativ. Ob  sie eine Allegorie auf den ewigen Frieden oder ein Mordinstrument meint, ist wurst. Es kann innerhalb des Marktes keine kritische Kultur geben. Darum braucht nicht-affirmative Kunst den gesellschaftlichen Ort der vom Markt uneinholbaren ex-territorialen Kultur. Damit erlangt sie jene Autonomie zurück, die die moderne Kunst zwar jederzeit behauptet, jedoch nie besessen, sondern lediglich mit viel theoretischem Brimborium als Schein verteidigt hat.

«Autonome» moderne Kunst ist wohl eines der elitärsten Kultursegmente der ganzen Kulturgeschichte und verschanzt sich heute hinter den Fassaden der Repräsentanz und hinter einer Mauer der Selbstnegation. Denn: Will Kunst – trotz des Marktes, an dem sie nach Kräften teilhaben muss – ihre Affirmativität verweigern, so bleibt ihr nur die Möglichkeit, sich selbst zu dementieren: Darum heisst Kunstautonomie innerhalb des Marktes Selbstnegation. Während das Thema der bürgerlichen Ästhetik früher die Kunst als Schein von Welt war, ist ihr Thema heute ihre Ignorierung als Schein von Kunst.

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Ex-territoriale Kultur dagegen ist Subkultur, die das Sklavenbewusstsein, Kultur unter der «Hochkultur» zu sein, überwunden hat. Sie durchschaut die Ideologeme von Kunstproduktion, Fortschritt, Professionalität etc. als Teil einer untergehenden Weltanschauung. Sie verweigert den Gang auf den Markt nicht, weil er moralisch falsch oder korrumpierend wäre, sondern weil der Markt alle denkbaren kulturellen Bemühungen zunichte macht, indem er sie als Kunstprodukte zu Waren neutralisiert und so vermarktet. Was heute in der kulturpolitischen Diskussion ansteht, ist ein ökonomischer «Turn», der diese Diskussion so fundamental verändern wird wie der linguistic turn Diskussionen in anderen Bereichen verändert hat.

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Wer 1990 den Kulturboykott gegen die 700-Jahr-Feier unterzeichnete, stellte sich ausserhalb des von Eidgenössischen Stellen geöffneten Marktes. Die Aktion verwies insofern einerseits auf ex-territoriale Kultur, blieb aber andererseits subkulturelle Trotzreaktion, denn die Verweigerung wurde nicht ex-territorial ästhetisch, sondern moralisch begründet (Empörung über die Fichenaffäre). Ex-territoriale Kultur hätte damals sagen müssen: Ich mache nicht mit, weil das Projekt der 700-Jahr-Feier kulturell leer und uninteressant ist. Es bringt nichts als (ein)gekaufte Kunst, also nichts, was kulturell weiterführt.

Ex-territoriale Kultur ist hier und heute nur mit äusserster Anstrengung, nur fragmentarisch und nur in Widersprüchen lebbar. Sie beginnt dort, wo eine Münze über tiefer werdendes Wasser schiefert und man sich nicht über den Geldwertverlust aufhält, sondern den Tanz des Metallstücks als Werk würdigt. Für jene, die Kultur schaffen, indem sie Münzen übers Wasser schiefern, ist ihr Kulturverständnis hier und heute existenzgefährdend. In dem Mass, in dem jedes Ding und jede Dienstleistung im sozialen Raum kommodifiziert wird, in dem Mass wird das Existenzgefährdende zur Kultur.

Am ehesten ist ex-territoriale Kultur hier und heute wohl in der politischen Bewegung der Autonomen denkbar, weil dort das kulturelle Selbstverständnis mit Marktverweigerung und Anspruch auf Öffentlichkeit einher geht. Müsste ich demnach von «autonomer Kultur» reden, wenn ich ex-territoriale Kultur sage?

(28.-30.1, 6.+7.2.1994; 20.12.2001; 14.2.2005; 11.+18.12.2017; 15.07.2018)

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