«Die Mauer ist weg»

1.

Mit der Preisgabe der Berliner Mauer durch die DDR letzte Woche[1] hat der Zusammenbruch der osteuropäischen Länder einen neuen Höhepunkt erreicht. Nun sind die Zeitungen voll mit kapitalistischer West-Häme und real-sozialistischem Mea-culpa.

Was ich sehe: Die historische Phase des Kalten Kriegs ging in dem Moment zu Ende, in dem das monströse ideologische Gefecht, mit dem zwei Generationen eines ganzen Kontinents terrorisiert worden sind, nicht mehr gebraucht wird: Die weitere Forcierung der Rüstungsindustrien ist nicht mehr nötig. Mittlerweile ist die Erde ökologisch in einem Mass ruiniert, dass sich im Bereich dieses Krisenmanagements enorme Märkte abzeichnen.

Angesagt ist zudem nach der kapitalistischen Überwältigung des Ostblocks weltpolitisch die Bildung eines neuen Blocksystems: Der alte Feind wird tendenziell in die eigenen Reihen aufgesogen, ein neuer Feind wird anvisiert. Der Kapitalismus rüstet – ist er erst verbündet mit sämtlichen industrialisierten Ländern – zum nächsten letzten Gefecht, für das die bestehenden Waffenarsenale noch weit reichen: zur Eroberung des Südens durch den Norden und damit zur Sicherung der verbliebenen organischen und anorganischen Rohstoffe. Gleichzeitig kann die postindustrielle Heimat des weissen Herrenmenschen zu dessen Erholungsraum nun in eine kontinentweite naturnahe Parklandschaft umgestaltet werden.

[1] Die Berliner Mauer wurde am 9. November 1989 geöffnet.

(18.11.1989; 09.08.2017)

2.

Was bricht in Osteuropa zurzeit wirklich zusammen? Es gibt auf die Umwälzungen in der DDR, in der Tschechoslowakei, in Bulgarien zwei verschiedene Blickwinkel: einen modernen, apokalyptischen und einen postmodernen, vergleichsweise optimistischen.

Der geschulte moderne Blick der westeuropäischen Linken erkennt den grossen Zusammenbruch (brave, lebenslängliche, jetzt gebrochene SED-Mitglieder erleben ihn als persönliche Katastrophe, wie Berichte aus der DDR belegen). Zwar hält sich momentan noch die Position, was geschehe, sei lediglich das Ende des Stalinismus und der wirkliche Sozialismus breche jetzt erst an. Doch eigentlich durchschauen alle diesen Euphemismus: Der real existierende Sozialismus ist ökonomisch am Ende. In der Perspektive der Moderne erobert der Kapitalismus den «Ostblock» als befreites Gebiet: statt Weltrevolution Untergang. Ent-Täuschung am Ende der Utopie.

Dagegen der postmoderne Blick, den Wolfgang Welsch in anderem Zusammenhang so fasst: Der Hauptstrang der Neuzeit, die «szientifische Rationalität», wird im Laufe der Zeit in immer «anderen Feldern» – zurzeit als «Postmoderne» in der Kulturtheorie und in der Ästhetik – konfrontiert mit und schliesslich selber infisziert von Gegenströmungen: «Pluralität, Diskontinuität, Antagonismus, Partikularität dringen jetzt in den Kern des wissenschaftlichen Bewusstseins ein. Monopolismus, Universalität, Totalität, Ausschliesslichkeit werden ausgeschieden. […] Das heutige Bewusstsein der Wissenschaft ist durch die Vielfalt von Modellen, die Konkurrenz der Paradigmen und die Unmöglichkeit einheitlicher und endgültiger Lösungen geprägt.»

Ersetze ich in diesem Zitat «wissenschaftlich» und «Wissenschaft» mit «politisch» und «Politik», so habe ich ein postmodernes Erklärungsmodell für die Ereignisse in Osteuropa. Dem modernen Blick zeigt sich ein apokalyptisches Spektakel: Der einzige europäische Sozialismus, der zu einer gesamtgesellschaftlichen Praxis gefunden hat, bricht zusammen. Für den postmodernen Blick ist lediglich Sozialismus als singuläre Heilsmöglichkeit am Ende. Offen bleibt für ihn, ob sich Sozialismus und Pluralität zusammendenken lassen. Offen ist demnach auch, ob in diesen Jahren nicht genau dieses Zusammengedachte einen Weg in die Praxis findet. Die Frage ist demnach: Ist ein «demokratischer Sozialismus», der jetzt wieder (wie 1968) diskutiert wird, überhaupt denkbar, solange Sozialismus verstanden wird als singuläre Heilsmöglichkeit, der «Singularität und Universalität […] zuinnerst eigen, Pluralität und Partikularität zutiefst fremd» sind?

[1] Wolfgang Welsch: Unsere postmoderne Moderne, Weinheim (VCH Acta humaniora) 1988, S. 78.

[2.] Welsch, a.a.O., S. 77.

(12.12.1989; 09.08.2017; 08.05.2018)

 

Nachtrag 1

Wird der Begriff «Sozialismus» marxistisch-leninistisch gefasst (wie anders könnte man ihn sinnvoll fassen?), muss diese Frage selbstverständlich verneint werden. Sozialismus als «die erste Form der neuen Gesellschaft» – dem der Kommunismus als «Ziel des Kampfes» erst dann folgen kann, «wenn sich der Sozialismus vollständig gefestigt hat» (Lenin), wird ja mit der «sozialistischen Revolution» durchgesetzt, der, als «Übergangsperiode», «die revolutionäre Diktatur des Proletariats» folgt (Marx/Engels).[1]

Anders wäre die radikale Umwälzung der Besitzverhältnisse an den Produktionsmitteln auch nicht durchzusetzen. Die Formel des «demokratischen Sozialismus» ist also ein Paradox: Als Vision einer klassenlosen Gemeinschaft freier Menschen in Frieden und Solidarität ist sie nichts anderes als eine undialektisch gedachte Vorwegnahme der kommunistischen Utopie. Der «demokratische Sozialismus» ist die Illusion einer kommunistischen Gesellschaft ohne den Umweg ihrer notwendigerweise diktatorischen Durchsetzung. Insofern gibt es auch keine postmoderne Weiterentwicklung des Sozialismus.

Die Conditio sine qua non des Sozialismus ist die unangefochtene Hegemonie in Theorie und Praxis: Eine Gesellschaftsordnung kann nicht ein bisschen sozialistisch sein. Sozialismus im Aggregatszustand der Postmoderne ist nie etwas anderes als eine Spielart der Sozialdemokratie. Die Vision ist nicht zu haben ohne Blut an den Händen, das ist das ethisch-moralische Dilemma des Sozialismus – aber nicht von vornherein eine endgültige Absage an ihn: Blut an den Händen könnte in einer bestimmten politischen Situation das kleinere Übel sein.

[1] Nach: Georg Klaus / Manfred Buhr [Hrsg]: Marxistisch-Leninistisches Wörterbuch der Philosophie. Band 3. Reinbek bei Hamburg (Rowohlt) 1972, S. 1114 f. (Stichwort «Sozialismus und Kommunismus»).

(23.09.1997; 08.05.2018)

 

Nachtrag 2

Als das kleinere politische Übel kann ich mir Blut an den Händen heute allerdings nur in einer Situation der Notwehr denken. Die aus einer Revolution hervorgegangene, vorübergehend notwendige Diktatur zu denken als Notwehr gegenüber dem Kapitalismus, bräuchte mehr ideologischen Schwung, als mir mein Ethos zulässt.

(05.2005)

 

Nachtrag 3

Also ist es meine Perspektive, von Fall zu Fall über die Spielarten der Sozialdemokratie zu lästern und ansonsten die Frage nach der freiheitlichen und gerechten Ordnung der Gesellschaft den neoliberalen Think Tanks zu überlassen? Und wenn ja: Was unterscheidet meine Haltung dann von Resignation?

(07.2009)

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