Über Musik verstummen

Die Musik ist als akustisches, materiales Phänomen weitgehend zu Ende gedacht. Aber Musik wird nie zu Ende erlebt sein. Aufgrund meiner Hörerfahrung zweifle ich daran, ob es je noch eine neue Generation von «NeutönerInnen» geben wird: Das endliche Material ist aufgebraucht. Was sich jedoch fortwährend verändert und erneuert ist das Musikhören, die Art der Rezeption, das Bedürfnis nach Musik mit ihrer Eigenschaft, als akustische Signale beim Wiederhören im Menschen jenes Verschüttete und Verdrängte freizulegen, das in ihnen zur Zeit des ersten Hörens dieser Signale offenlag: Beim Wiederhören lädt sich Musik mit einer Nostalgie auf, der sich niemand entziehen kann.

Weil es nicht unendlich viel verschiedenes Musikmaterial gibt, ist es in diesem Jahrhundert immer schwieriger geworden, materialimmanent über neu produzierte Musik zu reden (dieser hochspezialisierte, selbstreferentielle Diskurs wird  nur von akademisch Geschulten gesprochen).

Am Neuen, was de facto in den Kanälen der Öffentlichkeit tönt, ist nicht mehr das Material neu, sondern die immer häufiger elektronische Produktion, die Interpretation, die Darbietungsform oder die Selbstinszenierung der MusikerInnen. In der Musikdiskussion ist das Objektive unbedeutend geworden, heute ist das Reden über Musik – etwa am Radio – elaborierte Interpretationsexegese. Oder es ist Teil der Musiksoziologie. Oder Teil des Jahrmarkts der kunstbetrieblichen Eitelkeiten. Oder Teil der Ideologie vom ewigen Unverstandensein genialer Einsamer, die fähig seien, ihr schweres Leben ganz und gar in Wohlklang zu sublimieren (Gesualdo ein Mörder! Beethoven taub! Schubert syphilitisch! Mozart im Massengrab! Und auch mir geht es schon so schlecht, dass ich komponieren möchte).

Für den kritischen Diskurs über das Musikmaterial aber, wie ihn zum Beispiel noch Adorno pflegte, ist die Musik offenbar verloren. Oder wäre präziser zu sagen: erledigt?

(13.05.1989, 05.07.1997; 20.11.2017; 04.07.2018)

 

Nachtrag

Ein schwieriges Werkstück: Aus einer solch rigoros materialen Perspektive wäre nicht nur die Musik, sondern selbstverständlich auch die Sprache erledigt. Richtig ist sicher für jede Kunstform, dass mit dem zur Verfügung stehenden Material nicht unendlich, sondern nur unzählbar viele Varianten möglich sind: Wer mit der Sprache arbeitet, hat es mit den Sinneinheiten von Silben, Wörtern und ihren Klängen zu tun; wer mit akkustischem Material arbeitet, tut das mit Tönen und Geräuschen, mit Tonhöhen und -längen sowie mit den Klangfarben. Bei der gesprochenen, resp. gesungenen oder gespielten Interpretation kommen Fragen der Lautstärke und der Phrasierung hinzu. In beiden Fällen nicht zu vergessen ist – wenn ich das Werkstück an meinen damaligen ästhetischen Argumentationen messe – die sinnsteuernde Funktion des Rahmens, in dem Texte oder Musiken in Erscheinung treten.

Meine damalige Argumentation verweist für mich heute nicht zuletzt auf Folgendes: Ich habe im Herbst 1975 an der Scola Cantorum Basiliensis die Ausbildung zum Musiklehrer (Hauptfach war die Blockflötenfamilie) begonnen. Bald interessierte ich mich mehr für Musiktheoretisches als für die musikalische Praxis. 1978/79 begann ich deshalb am Konservatorium – einer anderen Abteilung der Musikakademie in Basel – bei Jacques Wildberger (1922-2006) ein Kompositionsstudium (siehe hier und hier). Als ich im Sommer 1979 aus privaten Gründen nach Bern zog, signalisierte Wildberger dem Kompositionslehrer am dortigen Konservatorium, Theo Hirsbrunner (1931-2010), dass ein Student zu ihm wechseln möchte. Ich habe nach den Semesterferien mit Hirsbrunner nicht einmal mehr Kontakt aufgenommen und mich seither weder theoretisch noch praktisch weiter mit Musik beschäftigt. Das Werkstück sagt also in erster Linie: Mein Diskurs über Musik und meine kreative Auseinandersetzung mit ihr hat sich erschöpft. Heute pflege ich das autobiografische Vorurteil, ich hätte vier Jahre meines Lebens professionell in die Musik investiert, um zu begreifen, dass ich kein Musiker bin.

Heute höre ich zwar selten Musik, aber es kommt vor (zurzeit gerne immer wieder die Rosenkranz-Sonaten von Heinrich Ignaz Franz Biber). Um die im Werkstück angesprochene Emotionalität des Wiederhörens zu erzeugen, muss Musik in einem materialen Sinn in keiner Weise neu sein. Auch wenn «das endliche Material […] aufgebraucht» ist, wie ich geschrieben habe, höre ich es neu, wenn ich es wiederhöre. Aus der produktionsästhetischen Perspektive eines gescheiterten Kompositionsstudenten, die ich im Werkstück einnehme, ist dieses Argument allerdings nichts als eine rezeptionsästhetische Ausflucht: psychologisierender Schwurbel, der mit Musiktheorie nichts zu tun hat.

(15.+20.11.2017; 04.07.2018)

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