Der Abgang der Nonkonformisten

Zu meinen Lebzeiten wird das unabhängig geschriebene Wort nie mehr eine hegemoniale Bedeutung haben. Nicht die Formen und Inhalte der Texte, sondern die Medien selbst machen Schreibende immer mehr zu subkulturellen Randerscheinungen.

(16.08.1996; 02.07.2018)

 

Nachtrag 1

Die beiden Sätze sind derart unklar, dass ich heute, neun Jahre später, nur vermuten kann, was ich damals damit gemeint haben mag. Als das «unabhängige Wort», das «hegemonial» sei, könnte mir am ehesten jenes vorgeschwebt haben, das nonkonformistische Autoren in der Nachfolge von Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt in ihren öffentlichkeitswirksamen Interventionen und Reden gebraucht haben. «Hegemonial» würde dann heissen: bedeutend gemacht durch das kulturelle und soziale Kapital dieser Autoren, das ihre Auftritte zu öffentlichen Ereignissen hat werden lassen.[1]

Was der zweite Satz des Werkstücks mehr als das Diktum des Medientheoretikers Marshall McLuhan bedeuten könnte, verstehe ich nicht mehr. Weil dessen Buch «The Medium is the Message» jedoch bereits 1967 erschienen ist, wird man auch für die Schweiz nicht sagen können, die von mir damals konstatierte Marginalisierung der freien Medienschaffenden – zu denen Kulturschaffende werden, falls sie für ihre Medienauftritte überhaupt ein Honorar bekommen – sei ein Phänomen der neunziger Jahre.

Heute wie damals scheint mir allerdings klar, dass in der Deutschschweiz die Zeit ab 1990 für die politische Publizistik jener, die sich einer Litterature engagée verpflichtet fühlen mochten, eine Zäsur bildet: Zuvor hatte sie eine Funktion, nun wurde sie tatsächlich marginalisiert, weil sie mit dem Ende des Kalten Kriegs ihre Funktion verlor. Die Gründe, die ich heute sehe, sind die Folgenden:

1. Vier der prominentesten jener Autoren, die bis 1990 kontinuierlich öffentlich interveniert hatten – Frisch, Dürrenmatt, Walter, Meienberg – starben kurz nacheinander zwischen 1990 und 1994.

2. Seit den sechziger Jahren hatte sich die nonkonformistische Fraktion der Schriftsteller – Schriftstellerinnen kamen später dazu – mit kritischen Statements ihren Platz in den linksliberalen Zeitungen erkämpft (Nationalzeitung, Badener Tagblatt, Burgdorfer Tagblatt, Tages-Anzeiger, Weltwoche u.a.). Seither wurden nicht nur ihre neuerscheinenden Arbeiten zuverlässig rezensiert, sondern sie selber waren mit kritischen Essays und Interviews immer wieder präsent. 1989/90 ging der Kalte Krieg zu Ende. Nun hatten es die «bürgerlichen Medien», wie ich sie damals nannte, nicht mehr nötig, die Nonkonformisten zu zitieren, wenn sie ein kritisches Votum wagen wollten. Es fand ein kleiner ideologischer Dammbruch statt, weil der Westen den Kalten Krieg gewonnen hatte. Die festangestellten Medienschaffenden wurden ab sofort innenpolitisch an eine etwas längere Leine genommen, und viele bilden sich wohl seither ein, kritischen Journalismus ad libitum machen zu dürfen. Und tatsächlich: Wenn sie dürfen, machen sie sogar das.

3. Die audiovisuelle Revolutionierung der Medien veränderte das Profil jener, die mit ihrem Auftritt die intellektuelle Welt repräsentieren sollten: Jetzt waren nicht mehr die pfeifenrauchenden Gnome Frisch, Grass oder Muschg gefragt, sondern zunehmend junge, gutaussehende, geistig schnelle, aber formbare, karrierebewusste Leute – auch Frauen waren unterdessen erwünscht. Es brauchte nicht mehr intellektuelle Instanzen, die gegen den verbohrten Antikommunismus ihr linksliberal-abwägendes «Ja, aber…» vortrugen, sondern auswechselbare Figuren, die mit viel munterem «Sowohl-als-auch» die Unbegrenztheit der postmodernen Welt (und des freien Markts) beschworen.

4. Darüber hinaus ist nicht zu unterschätzen, dass das geschriebene Wort vor dem Hintergrund der audiovisuellen Revolutionierung der Medien überhaupt immer mehr an Bedeutung verlor und weiter verliert.

Aus diesen Gründen brachen in den neunziger Jahren die freie Publizistik und das Medienschaffen, die zuvor zumindest eine Schnittmenge gebildet hatten, auseinander. Aus den Zeitungen verschwanden Stimmen der Literaturschaffenden fast über Nacht. Man durfte jetzt selber sagen, was man zuvor vorsichtigerweise von Externen hatte sagen lassen und konnte so das Geld für diese freien Aufträge einsparen. Es entbehrt nicht eines gewissen Zynismus, dass seither eine gern gestellte Frage in den Medien aller Grade lautet: Warum haben die Autorinnen und Autoren bloss politisch nichts mehr zu sagen? Die Antwort lautet: Weil die grossen Medien selber die prekäre Kultur einer freien politischen Publizistik abgeklemmt haben.

Richtig am Werkstück ist übrigens auch aus heutiger Sicht, dass sich dieser Sachverhalt «zu meinen Lebzeiten» nicht mehr ändern wird.

[1] «Hegemonial» waren diese Auftritte freilich nicht: Es waren öffentlichkeitswirksame oppositionelle Interventionen gegen die «Hegemonie» im Sinne Antonio Gramscis (ich vermute, dass ich diesen Begriff nach Gesprächen mit dem WoZ-Redaktor gs zu verwenden begann, der sich in seinen Ausführungen häufig auf Gramsci bezog). Bei Gramsci wird kulturelle Hegemonie durch Hegemonieapparate wie Schulen, Kirchen, Medien oder Verbände hergestellt. Sie ist demnach eine Herrschaftstechnologie, die in der Zivilgesellschaft (der «società civile») zustimmungsfähige Ideen zu produzieren hat. Mit dem «unabhängig geschriebenen Wort» im Werkstück meine ich aber zweifellos gerade jenen Diskurs, der den hegemonialen kritisiert.

(13./14.09.2005; 08.+13.11.2017; 02.07.2018)

 

Nachtrag 2

Heute sehe ich noch einen weiteren Grund, warum jene, die ich im Werkstück als «Schreibende» bezeichnet habe, in den Zeitungen randständig geworden sind und mittelfristig wohl überhaupt nicht mehr vorkommen werden: Das Zeitalter des kunsthandwerklichen Schreibens geht langsam zu Ende. Das heraufkommende Zeitalter wird das printjournalistische Schreiben immer mehr in industriell-arbeitsteiliger Massenproduktion betreiben. Sicher ist: Texte als seriös wirkendes Umfeld für die Werbeflächen in den Zeitungen müssen mit Blick auf die Überkapazitäten der Druckindustrie billiger werden. Wer, was niemandem verboten ist, einen weitergehend interessanten, vielleicht sogar ein bisschen komplizierten Text schreiben will, kann das selbstverständlich tun. Die Person muss sich die Schreibarbeit einfach finanzieren können, und ob sie sie später wird veröffentlichen können, bestimmen Angebot und Nachfrage.

(15.01.2008)

 

Nachtrag 3

Trotzdem habe ich mir Anfang 2008 wohl noch vorgestellt, aus dem damals schon umfangreichen «Stückwerk»-Material vielleicht eines Tages ein Buch machen zu können. Dass ich die Veröffentlichung des Materials heute ganz selbstverständlich als Online-Projekt in Angriff genommen habe – und dabei im Sinn einer Literaturförderung von öffentlichen Stellen unterstützt werde – zeigt, wie stark sich die Situation verändert hat. Sogar die öffentliche Literaturförderung geht bereits heute nicht mehr davon aus, dass Literatur in jedem Fall erst durch ihre Veröffentlichung in Buchform zu Literatur werde. (Abgesehen davon ist die Frage, inwiefern Spracharbeit im Grenzgebiet – wie es das «Stückwerk»-Projekt für mich ist – etwas mit Literatur zu tun hat, reizvoll und lässt verschiedene Antworten zu.)

(08.+13.11.2017; 02.07.2018)

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