Der Markt als finale Kulturform. Ein Thesenspiel

1.

Der Markt als Warenumschlagplatz ist älter als das, was man heute unter Kapitalismus versteht – und dessen Voraussetzung. Heute jedoch hält der Markt die Felder alles Tausch- und Kommunizierbaren soweit besetzt, dass auch im Bereich des Kulturellen eine andere als die marktvermittelte Produktion und Konsumtion nicht mehr vorstellbar ist. In den Jahren des Neoliberalismus hat sich diese Marktausweitung auf immer neue Lebensbereiche aus zwei Gründen beschleunigt: einerseits durch die Revolutionierung und flächendeckende Verbreitung der elektronischen Produktionsmittel, andererseits durch die mit dem Untergang des realexistierenden Sozialismus gekoppelte Offensive des Kapitals, in der seither mit dem Skalpell der Kommerzialisierbarkeit Wert von Nicht-Wert als Welt von Nicht-Welt getrennt wird.

2.

Bis weit in die Neuzeit hinein hat sich ausserhalb des freien Kulturmarkts eine Lebenskultur behauptet, die von Mäzenatentum, religiösen und weltlichen Interessen oder ethischen Maximen (Almosenwesen, Hilfe in der Not, Solidarität) getragen wurde. Kunst – im weiten Sinn von künstlerischer Hervorbringung – war ursprünglich Teil dieser Lebenskultur und wurde erst vom Kapitalismus derart weitgehend als Tauschwert mit ausschliesslichem Status-Gebrauchswert warenförmig in Wert gesetzt.

3.

Heute hat das Universum dieser Lebenskultur ein Doppelgesicht: Einerseits scheint es sich in einer immer unübersehbareren Vielfältigkeit auszudifferenzieren, andererseits wird es gleichzeitig immer uniformer und monopolarer zur Marktkultur: zur Produktepalette auf dem Kulturmarkt. Die ganze Lebenskultur – als Kulturschaffen im weitesten Sinn – ist zur Monokultur geworden, deren Schein unabsehbare Vielfalt ist.

4.

Diese Entwicklung zur Monokultur bedeutet, dass Lebenskultur nicht länger auch ausserhalb des Markts und als dessen Gegenprinzip wirkt. Auch Lebenskultur ist nichts weiter mehr als eine Branche des Marktes, deren Ideologie es ist, sich als dessen Gegenprinzip zu verstehen. Heute muss niemand mehr den affirmativen Charakter der Kultur konstatieren – es gibt sie in diesem Sinn gar nicht mehr: Kultur als eigenständiger gesellschaftlicher Faktor ist obsolet geworden.[1] Zu konstatieren ist also das Ende dessen, was man bisher unter Kultur verstanden hat. Die einzige Kultur, die geblieben ist, ist der Markt, und wer etwas anderes im Sinn hat, steht und argumentiert ausserhalb der aktuellen Ordnung seine sozialen Welt.

5.

Als kommerzialisiertes Feld unter anderen ist die Öffentlichkeit der Kultur ihre Präsenz auf dem Markt. Das heisst: Die ganze kulturell gebundene Zeit und der ganze kulturell gebundene Raum ist restlos vom Geschäft mit kulturellen Gütern – Werken als ökonomischen Werten – ausgefüllt. Kultur ist durch den Markt restlos unterworfen worden. Das gilt nicht nur für den Betrieb der Kunst-am-Bau-der-herrschenden-Verhältnisse-Kultur, sondern genauso für all die gutgemeinten Alternativ-Veranstaltungen mit «emanzipativen» Inhalten bei mässigen Eintrittspreisen. Nur wo Geld umgesetzt wird – das ist für die heutigen Jugendlichen zweifellos bereits unhinterfragbar –, kann von Kultur gesprochen werden. Wird kein Geld umgesetzt, so scheint es heute, herrscht als Gegenprinzip die Zivilisationslosigkeit der schieren Natur – Nicht-Wert und soziale Nicht-Welt sind identisch geworden.

6.

So gesehen muss heute die ganze Anstrengung darauf gerichtet sein, die Erinnerung daran wach zu halten, dass kulturell gebundene Zeit und kulturell gebundener Raum nur marktabgekoppelt emanzipativ und zukunftsweisend wirksam sein können. Konventionell veröffentlichtes, aktuelles Kulturschaffen ist hier und heute nicht möglich. Das Mögliche: daran zu erinnern, was Kultur (im Sinn der breit verstandenen Lebenskultur) wäre, wenn sie einen Ort und eine Zeit hätte.

[1] Anlässlich einer Konzeptänderung hat die «Berner Zeitung» Anfang April 2006 ihre mit «Kultur» überschriebenen Seiten abgeschafft. «Kultur» kommt von jetzt an in den anderen Ressorts noch dann vor, wenn sie sich aufdrängt. Und aufdrängen wird sie sich vor allem dann, wenn sie als relevantes Marktphänomen erscheint, denn nur relevante Marktphänomene genügen dem Publikumsinteresse einer Forumszeitung.

(06.10.1996; 18.09.2017; 21.06.2018)

 

Nachtrag

Dass mich dieses Werkstück heute ratlos macht, merke ich daran, dass ich beim Transkribieren mehr als bei anderen über das blosse Schleifen hinaus zu redigieren begonnen habe. Das Stück liest sich als Folge von Empörungsschreien in einer Sackgasse, wobei die Empörung der Tatsache gilt, dass der Weg hier nicht weiterführt.

Nicht weiter führt er, weil die derart antagonistische Setzung von Markt und Kultur logisch im Kreis dreht:

a) Kultur, die ich meine, ist öffentlich.

b) Es kann hier und heute nichts öffentlich sein, was sich nicht dem Markt unterzogen hat und durch ihn vermittelt wird.

c) Kultur, die sich dem Markt unterzieht, ist nicht die Kultur, die ich meine.

d) Kultur die ich meine, ist nicht vom Markt vermittelt, aber weil sie in diesem Fall auch nicht öffentlich sein kann, ist sie nicht die Kultur, die ich meine, denn: siehe a).

Damit habe ich seinerzeit bereits die «Konvolut»-Logik der späten achtziger Jahre in eine Endlosschlaufe getrieben: Ich versuche, die Kultur als Ganzes vor der Welt, wie sie ist, zu retten. Deshalb ist die Conditio sine qua non dieser meiner Kultur eine Öffentlichkeit, die unter Ausschluss des Marktes besteht. Diese Bedingung war schon vor den Zeiten des Neoliberalismus illusionär.

(30.04.2006; 18.09.2017; 21.06.2018)

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