Die «Konvolut»-Rezension von Niklaus Meienberg

In der Nr. 14/1990 veröffentlichte die WoZ eine Rezension des «Konvoluts» von Niklaus Meienberg unter dem Gedichttitel «spätausgabe» («Konvolut», S. 162), mit dem sich Meienberg am Anfang seines Beitrags auseinandersetzte. Als er die Rezension später in sein Buch «Weh unser guter Kaspar ist tot. Plädoyers u. dgl.» (Zürich [Limmat Verlag], 1991, S. 17ff.) aufnahm, stellte er es unter den Titel «Lerchs klandestine Gedichte». Hier ist sein Text:

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«Ein Gedicht von Fredi Lerch (den man sonst als Prosaisten kennt), entstanden vor der fernsehgerechten Erschiessung des…

Ja / Was kommt uns da / in den Sinn? Doch wohl die letzten Stunden des Ehepaars Ceausescu. Das Fernsehen schiesst Bilder (‘und nicht auf den Kopf ihr Lümmel’), Gewehre werden geladen, Kameras auch, das Personal ist am Drücker. Davon träumen die Herren der Einschaltquoten auch bei uns: hin und wieder einen Ceausescu auf Lager zu haben und ein bisschen etwas zu arrangieren, wenn die spontanen Bilder aus Beirut nicht pünktlich eintreffen. Der Beleuchter gibt Feuer mit dem Spotlicht, im Moment der Erschiessung verschmilzt für den Exekutanden das Mündungsfeuer mit dem Gleissen der Jupiterlampen, sein Leben wird dadurch dann grad ausgeblendet – wie das Bild von seinem Tod.

Aber vielleicht kann man das auch anders lesen, und das Gedicht handelt nicht von der Tagesschau, sondern von einem Reklamespot? In Frankreich etwa, wo die Reklame-Industrie punkto Rasanz und Zynismus immer die Nase vorn hat, ist das Realitäts-Theater bereits derart entwickelt, dass realistisch nachgestellte Erschiessungs-Szenen, mit Vorliebe in den Tropen angesiedelte, irgendein Produkt verkaufen, nämlich etwa so: Ein Peleton der Fremdenlegion hört auf das Kommando LADEN ///

LEGT AN ///

Und bevor der Offizier noch FEUER! rufen kann, befreit sich der zu erschiessende Neger mit einer mirakulösen Rasierklinge von dem Strick, der ihn an den Exekutionspfahl fesselt, und während die Kamera auf die Rasierklinge zoomt, sagt der Offizier: Gilette lässt Sie nie im Stich. (Gilette Spätausgabe) (Oder: Von den gleitenden Übergangen zwischen Realität und Theater.)

Der Gedichtemacher, oder sagen wir ruhig: der Poët – kommt aus dem Griechischen und bedeutet: der Macher – führt Regie über die Regie des Fernsehens, will sagen dagegen, indem er seine Bilder platzen lässt (wie Patronen). Ein Meister des Arrangements und offensichtlich auch der Unterkühlung und der kennerisch gesetzten Interpunktion: man muss nicht Interpunktologe sein: um die Funktion der Doppelpünkte zu erkennen, welche die Handlung zugleich gebieterisch vorantreiben und imperativ zerhacken. Zerschossener Sprachkörper. Die Doppelpünkte stauen periodisch die Sätze zu aggressiven Ballungen, wenn ich so sagen darf:

und wie vielleicht die universitäre Germanistik in absehbarer Zeit es formulieren wird, dieses Gedicht des Fredi Lerch sezierend. (Vivisektion. Diesbezüglich können wir auf die Germanistik zählen.)

Das hier zitierte Protokoll von F.L. ist in einem Buch enthalten, welches kürzlich erschienen, beziehungsweise eskamotiert wurde und eben nicht wirklich erschienen ist, sondern von Lerch nur in einer Auflage von ca. 600 Ex. [genau: 520, fl] hergestellt und an ausgewählte Bekannte & Freunde verschickt worden ist, etwa 300 bisher. So ein Geiz-Kragen! Und Trotz-Kopf! Und Heimli-Feiss! Lässt, um den Warencharakter der Poesie aufzuheben, sein Buch unter dem Titel Konvolut nur als Privatdruck zirkulieren: Reinheitsgebot beim Brauen und Abfüllen des obergärigen poëtischen Biers. Jedes Buch übrigens äusserlich ein Unikat, jeder Umschlag (aus Postkartenmakulatur hergestellt) wieder anders: was aber nur merken kann, wer mindestens zwei Ex. gesehen hat, und weil das Buch ja nicht serienmässig aufliegt, in Buch-Handlungen etwa, kann der Leser nicht wissen, dass er kein Serien-Produkt in Händen hält, sondern eben ein Unikat (punkto Umschlag. Die Texte sind dann in allen Ex. die gleichen).

Verknappt da einer das Angebot, um die Nachfrage künstlich zu steigern? Oder widert ihn einfach der Buch-Handel total an? Ist Lerch ein ganz Raffinierter, oder aber eine franziskanische Seele? Anima candida et simplex, oder Spekulant?

Die Literaturkommission des Kts. Bern [richtig ist: der Stadt Bern, fl] hat ihn um Zusendung von vier Ex. gebeten, zwecks evtl. Literaturpreisverleihung; und Lerch hat ihnen doch tatsächlich nichts gesendet. Das mache ihm mal einer nach von unseren literaturpreisgierigen Literaten! 12'000 Franken hat L. ins Konvolut investiert, ein gewaltiger Lupf für den unbegüterten WoZ-Redaktor, und wirtschaftlich gesehen für die Katz. Er versendet auch keine Besprechungs-Ex.: bravo. – Aber ist er ganz konsequent? Eine Ware ist eine Ware ist eine Ware, auch wenn nur er dafür bezahlt hat, und der (gratis belieferte rare) Leser nicht. Und müsste ein Gedichtemacher, wenn er die Reproduzierbarkeit der Ware wirklich aufheben will, nicht zurück ins Barden-Zeitalter gehen, und dem gesprochenen, ständig modifizierten und modulierbaren mündlichen Wort mehr vertrauen als dem schriftlich fixierten? Es ist so eine Sache mit dem Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, und eine Regression in die praegutenbergische Periode halt immer harzig.

Schade! Dass diese ca. 200 Lerchschen Gedichte nicht allgemein zugänglich und kritisierbar sind. Wären sie es, dann müsste man das Konvolut zu den in dieser Sparte bemerkenswertesten schweizerischen Veröffentlichungen der letzten Jahre zählen, weit über dem Durchschnitt unserer sterbenslangweiligen hiesigen Poesieproduktion. (Nein, ich nenne keine Namen, oh nein, damit Frau Luise F. Pusch nicht wieder sagt, ich sei ein Frauenfeind). Aber bitte, ich darf dieses Buch nicht empfehlen, sonst könnte es am End noch in den Handel kommen, und mich trifft des Sängers Fluch: «Wer das Konvolut oder einzelne Texte daraus krass missbräuchlich verwendet, den treffe der Bannspruch der Poesie», schreibt Lerch auf dem Vorsatzblatt des Konvoluts.

Dergestalt darniedergestreckt, richte ich mich nun wieder auf und sage, sage und schreibe: Es hat auch schlechte Gedichte darin («Herbst hat lichte fäden / zwischen erlen und buchen gehängt» – nein, das lassen sich die erlenbuchen heute nicht mehr gefallen; und ein liebesgedücht hats, ob welchem es dem Teufel und all seinen Bräuten graust) und nehme an, ich mach dem Autor, der vor Selbstverleugnung strotzt, eine Freude, wenn ich ihn tadele: aber muss ihm trotzdem, zu seinem Missfallen, erklären, dass mindestens 30 hinterlassungsfähige Gebilde, darunter ein paar äusserst gelungene, wühlerische und/oder gescheite, konkrete, verschlingenswerte, klingende Gedichte in seiner Nichtveröffentlichung enthalten sind; und könnte ein guter Lektor ein prima verkäufliches weitherum zirkulierendes unter viele Häute gehendes manchen Funken entzündendes Buch machen aus dem Konvolut, und so kämen auch die Fr. 12'000 wieder zurückgeströmt in Lerchens Kässeli.

Sofort dem Unseld schicken, oder auch Herrn Spiess vom Limmat Verlag, 01/272 08 33.

(Pfui.)»

(WoZ, Nr. 14, 06.04.1990)

 

Nachtrag

Soweit ich mich erinnere, habe ich Niklaus Meienberg für diese sehr wohlwollende und differenzierte Rezension nicht gedankt, obschon ich ihm auf der Zürcher WoZ-Redaktion ab und zu begegnet sein werde. Diese Unhöflichkeit hat eine Vorgeschichte.

Ich war als Redaktor auf der Züricher Hauptredaktion (Oktober 1982 bis Ende 1984) mit Meienberg im Gespräch, regelmässig, seit er im Frühsommer 1983 aus dem Pariser Büro der Zeitschrift «Stern» nach Zürich zurückgekehrt war. Er sagte zum Beispiel zu mir: «Lerch, wenn du schreiben willst, dann musst du dich zuerst fragen: Wem gehört die Sprache?» Es gibt kaum einen Satz, der mich mehr zum Denken gebracht hätte als dieser. Im folgenden Winter zog er auf der Kulturredaktion die Fäden der Kampagne, die als «Realismusdebatte 1983/84» bekannt geworden ist – auch wenn wir RedaktorInnen die Knochenarbeit zu ihrer Realisierung gemacht haben (zum Beispiel mit einem hier zitierten Rundbrief zur Lancierung der Diskussion).

Später kam es zwischen Meienberg und mir zum Streit, den wir beide nicht heldenhaft bestanden haben. Anfang 1987 hatte ich den Auftrag, einen Beitrag für die Rubrik «Politisches Tagebuch» zu schreiben. Ich thematisierte die Schwäche «unserer» eigenen linken Identität und nahm nach dem Motto «Vorschlag zur Unversöhnlichkeit» Meienberg als Beispiel, indem ich seiner damaligen Schreibposition mit einigen sarkastischen Sätzen die Schwäche nachzuweisen versuchte. Der Beitrag erschien unter dem Titel «Wir Himmelwracks» – und zwar um den meienbergkritischen Abschnitt gekürzt (der integrale Text, einiges zu den Folgen und das Nötige zur Quellenlage findet sich hier).

Dass Meienberg in der nachfolgenden Zeit statt auf meinen Vorschlag zur Unversöhnlichkeit diskutierend einzusteigen, seine grosse informelle Macht auf der Zürcher Hauptredaktion der WoZ dazu nutzte, nicht nur mir, sondern der ganzen WoZ-Redaktionsstelle Bern, in der ich unterdessen arbeitete, das Leben schwer zu machen, konnte ich ihm nicht verzeihen.

Allerdings erinnere ich mich, dass er mich im Oktober 1988 privat anrief, um mir zu einer Fabrikreportage, die ich eben geschrieben hatte, zu gratulieren. Und jetzt, da ich nach mehr als einem Vierteljahrhundert seine Konvolut-Rezension transkribiert habe, stelle ich fest: Wie blockiert muss ich gewesen sein, um das Offensichtliche ignorieren zu können – nämlich, dass diese Rezension auch eine Geste, quasi ein Friedensangebot gewesen ist? Ich habe es, so meine Erinnerung, trotzig ausgeschlagen. Wie schwer mir auch später ein versöhnlicher Ton in Bezug auf Meienberg gewesen ist, belegt der Beitrag «Aber Kollege war er niemandem», den ich 2003, zu seinem zehnten Todestag, für den «Bund» geschrieben habe.

Lieber Niklaus, heute ist es so: Für die Dokumentierung deiner Konvolut-Rezension innerhalb des «Stückwerk»-Projekts habe ich die Verantwortlichen für die Rechte an Deinem Nachlass nicht um Erlaubnis gebeten. Ich denke, dass diese Erlaubnis auch heute noch eine Sache zwischen uns beiden ist. Du würdest mir die Erlaubnis geben – auch, weil das Onlineprojekt «Stückwerk» jener Konvolut-Printpublikation an Unvernunft um nichts nachsteht. Ich danke Dir. Und ich möchte Dir an dieser Stelle endlich danken für die Geste, die Deine Rezension damals auch gewesen ist.

(14.09. + 02.11.2017; 20.06.2018)

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