Tun als ob

Habe ich als Journalist wirklich zehntausend Leuten, zehntausend potentiellen LeserInnen, etwas zu sagen? Nein, aber ich muss schreibend fortgesetzt so tun, als ob ich das hätte, weil die WoZ zehntausend AbonnentInnen braucht, um auch meinen Lohn bezahlen zu können.

Wie vielen Leuten habe ich etwas zu sagen? Woraus schliesse ich das? Wenn ich sage, ich müsse schreibend fortgesetzt tun als ob, wie tue ich das im Einzelnen genau?

(12.09.1994; 25.08.2005; 29.08.2017)

 

Nachtrag 1

So gesehen habe ich mit der nun hier entstehenden Online-Veröffentlichung des «Stückwerks» für mich die ideale Publikationsweise gefunden. Theoretisch kann ein riesiges Publikum weltweit quasi live mitverfolgen, wie sich das Projekt entwickelt. Ob das jemand tut, kann mir egal sein. Ich muss kein Publikum mitdenken – also mir Gedanken machen, ob ich ihm etwas zu sagen hätte –, weil ich von ihm nicht über ein Abonnement (oder einen erhofften Buchverkauf) abhängig bin. Ich denke und schreibe vor mich hin, was mir richtig erscheint. Was entsteht, ist ein Angebot à prendre où à laisser.

Dieser Gedanke beschäftigt mich in letzter Zeit überhaupt ab und zu: Erst eine solche Haltung entspräche eigentlich demokratischem Kulturschaffen – also einem Kulturschaffen, wie es in einer Demokratie selbstverständlich sein müsste. Nicht der Warenverkauf, sondern das Interesse von vorbeigehend Hereinschauenden würde bei solchem Kulturschaffen die Nachfrage bestimmen. Aber wenn es zum Gespräch käme, dann fände es auf gleicher Augenhöhe statt.

Bloss, mahnt hier mein linkes Überich, muss man sich ein solch demokratisches Kulturschaffen leisten können. Das ist ein Projekt für Privilegierte. Als allgemeines Postulat diskutierbar wäre so etwas erst in einem demokratischen Land, in dem mehrheitsfähig wäre, alle, die sich für Kulturschaffende halten, solidarisch mitzutragen. Ich erwidere: Mein liebes linkes Überich, du weisst, dass ich immer so gerechnet habe: Ich arbeite, dass ich leben kann, und daneben schreibe ich das, was ich schreiben will. Drauf sagt mein linkes Überich: Das weiss ich wohl. Ich kenne aber auch die glücklichen persönlichen Umstände, die es dir bis hierhin erlaubt haben, dein Argument nie definitiv als Selbstbetrug verstehen zu müssen. Vorsichtigerweise sage ich an dieser Stelle nur noch: Wo du recht hast, hast du recht.

(29.08.2017)

 

Nachtrag 2

Um noch die gestellten Fragen zu beantworten:

• Wie vielen Leuten habe ich etwas zu sagen? – Ich gehe von 250 bis 500 Personen aus, die gewohnheitsmässig genauer hinschauen, wenn es von mir etwas zu lesen gibt. Und woraus schliesse ich das? – Aus den Verkaufszahlen der paar Bücher, die ich geschrieben habe.

Wenn ich sage, ich müsse schreibend fortgesetzt tun als ob, wie tue ich das im Einzelnen genau? – Weil ich als freier Printjournalist keine Aufträge mehr habe, stellt sich die Frage so nicht mehr. Früher hätte ich aber zugeben müssen, dass auch ich beim Schreiben sowohl inhaltliche als auch formale Zugeständnisse machte an das Publikum, wie die zuständige Redaktion es sich vorgestellt hat. Schurnis können ja sehr wohl so formulieren, dass ihre Sätze mehr und anderes zu bedeuten scheinen, als sie meinen können.

(31.08.2017; 03.06.2018)

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