Flaschenpost: Schreiben ohne Adressaten

Der «Facts»-Reporter Hanspeter Bundi ruft ins Büro an, weil er die Kollegin G. M. sucht. Wir kennen uns als Kollegen, beginnen zu plaudern. Er klagt darüber, dass er immer häufiger ohne Feedback schreibe, niemand lese das «Facts». Auch ich muss ihm wahrheitsgemäss sagen, dass ich das Wochenmagazin kaum je durchblättere.[1]

Bundi ist verwöhnt. Er war langezeit Reporter der «Weltwoche», lange bevor sie zum «Rechtsintellektuellen»-Blatt umgebaut worden ist. Die damalige «Weltwoche» hatte einen guten Namen und ein Publikum, das tatsächlich las. Unterdessen hat sich vieles geändert: Das Leseverhalten des Publikums wird anders – der Druck zur innert kürzester Zeit rezipierbaren Häppchen-Information ist enorm gewachsen unter dem Druck der audiovisuellen Medien, der Gratiszeitungen wie «20 minuten» und dem Internet. Die Reportage wird immer mehr zur literarischen Form – und zwar nicht darum, weil es ihre Aufgabe wäre, sich um das zu bemühen, was als Literatur gilt, sondern darum, weil sie schlicht auf ein lesendes Publikum angewiesen ist.[2]

Bundi hat zusätzlich das Pech, nun bei «Facts» zu arbeiten – ein defizitäres Blatt mit einem Verliererimage, das sich, wie man hört, die Tamedia AG vor allem deshalb weiterhin hält, weil sie verhindern will, mit der Einstellung von «Facts» die «Weltwoche» stärker zu machen.[3]

Ich merke während des Gesprächs mit Bundi aber auch, wie fremd mir die Klage geworden ist, man erhalte keine Reaktionen auf das Geschriebene. Bei der WoZ (respektive seit September 2003 WOZ) waren Rückmeldungen immer die Ausnahme – aus dem Publikum sowieso. Mit den Jahren wurden auch redaktionsinterne Rückmeldungen immer seltener. War der Text abgegeben, war die Sache erledigt. Das «Medientagebuch» das ich als freier Journalist letzthin – im November und Dezember 2005 – acht Mal verfasst habe, wurde mehrmals abgedruckt, ohne dass der zuständige Redaktor auch nur den Empfang meines per E-Mail übermittelten Textes bestätigt hätte.

In diesem Punkt bin ich nach einem Vierteljahrhundert WoZ geeicht: Man schreibt nicht, weil man gelesen werden will – man schreibt, weil etwas geschrieben werden muss. Diese Schreibhaltung habe ich um 1983/84 als Position des Widerstands von Mariella Mehr gelernt. Sie sprach damals vermutlich über die tabuisierten Aspekte der rassistischen schweizerischen Geschichte gegenüber der Minderheit der Jenischen oder von der verlorengehenden, mündlich tradierten Kultur dieser Minderheit.

Für mich ist diese Haltung unterdessen generell die einzig vernünftige Schreibhaltung geworden: Für die Printmedien oder die Verlage zu schreiben – die in den kommenden Jahren möglicherweise unter dem Druck der elektronischen Revolution weitgehend verschwinden oder sich ins Unvorstellbare verändern werden – und auf persönliches Feedback zu hoffen, ist zu vergleichen mit dem Versuch, in einem Herbststurm ein Manuskript von einer hohen Brücke zu werfen mit dem Anspruch, dass tags darauf jemand an der Haustür klingle, um sich für das Geschriebene zu bedanken.

Heute, darüber müsste auch ich weiter nachdenken, erhält aus objektiven gesellschaftlichen Gründen das Schreiben ohne Adressaten eine ganz neue Wichtigkeit und Bedeutung. Wobei: Schreiben ohne Adressaten heisst für mich nicht mehr – wie in der Zeit der «Nicht-Veröffentlichung» des «Konvoluts» – Verweigerung der Öffentlichkeit, insofern sie ein Synonym für den Warenmarkt ist, sondern folgendes:

• Im Gegensatz zu anderen Zeiten sind es nicht mehr die inhaltlichen Schranken im Sinn von zensurierten Fakten, die das öffentliche Reden einschränken, sondern immer enger werdende formale Korsetts. Wer heute gelesen werden will, muss das, was er sagt, in diese Korsetts zwängen. Wer aber sagen will, was aus seiner Sicht gesagt werden muss, kann das nur noch dann, wenn er bewusst ohne Adressaten schreibt. (Dieser Text wäre ein Beispiel für das Gesagte.)

• Schreiben ohne Adressaten ist nicht gleichzusetzen mit der paradoxen Verweigerung der Kommunikation, die man durch das Schreiben betreibt (schreiben, wie ich es verstehe, kommuniziert nicht, schreiben bildet ab). Es ist aber der Einsicht geschuldet, dass hier und heute kaum ein Weg in eine ernstzunehmende Öffentlichkeit führt. Die mediale Öffentlichkeit ist ein Marktplatz, auf dem nur noch die lautesten Marktschreiber mit der durchschlagendsten Marktmacht und den stromlinienförmigsten Aussagen gehört werden: Die persönliche Sicht eines Einzelnen, mag sie noch so fundiert und gut formuliert sein, wird immer weniger gehört, und es wird – das ist anders geworden, als es noch bis in die neunziger Jahre war – von den Medien aus marktopportunistischen Gründen immer häufiger vollständig ignoriert.

• Darum gilt heute Mariella Mehrs These in einem generalisierten Sinn: Es kommt nicht mehr darauf an, dass man gehört wird, sondern nur noch darauf, dass man dort redet, wo geredet werden muss. Schreiben ohne Adressaten heisst, Flaschenpostsendungen vorzubereiten, die eine Rezeption nicht mehr in der räumlichen Dimension eines Marktplatzes suchen, sondern in der zeitlichen einer Zukunft, wo das Gesagte plötzlich für irgendjemanden unter irgendeinem Aspekt von Bedeutung werden mag.

[1] «Facts» war ein wöchentlich erscheinendes Nachrichtenmagazin des Tamedia-Konzerns, das zwischen 1995 und 2007 erschien.

[2] Damit beschrieb ich 2006 sozusagen mit verbundenen Augen die Marktlücke, in der Daniel Puntas Bernet dann 2011 die Zeitschrift «Reportagen» lanciert hat.

[3] Geschrieben habe ich das ein Jahr vor der Einstellung der Zeitschrift. Aus heutiger Sicht erstaunt mich, dass das Tamedia-Management 2006 noch mit so viel Verlegerethik gehandelt haben soll.

(13.1.2006; 31.08.2017; 08.06.2018)

 

Nachtrag

Einverstanden. Und mir gefällt der Gedanke, das «Stückwerk», wie es nun hier unterdessen als Onlineprojekt heranwächst, sei ein Praxistest für genau dieses Schreiben ohne Adressaten.

(31.08.2017, 08.06.2018)

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