Schwarze Wahrheiten

Klar, manchmal kommen mir Zweifel bei der Arbeit am «Stückwerk». Zum Beispiel in den letzten Tagen, als ich an den «Subkulturetüden» gearbeitet habe. Ich habe daran gezweifelt, ob so viel Verbalradikalismus etwas bringt, sogar wenn er gut getroffen und nicht nur gut gemeint ist.

Etwa, wenn ich postuliere, nach der Zeitenwende von 1989, also nach dem Untergang einer wie auch immer korrumpierten sozialistischen Praxis, gebe es für die Kulturproduktion nicht einmal mehr ein strategisches Interesse, «auf dem Kulturmarkt weiterhin präsent zu sein». Darum sei die für die Emanzipation der Menschen nötige Form von Kultur heute die «ex-territoriale». Damit meinte ich: jene Kultur, die konsequent ausserhalb des Markts steht und in jedem Fall bezweckt, «ein permanentes, sich erneuerndes, möglichst unübersehbares schwarzes Loch im Universum des Markts» zu sein. Kann man so etwas überhaupt meinen und öffentlich aussprechen – sogar wenn die These für mich auch aus heutiger Sicht nicht einfach falsch ist?

Es gibt diese glücklichen Augenblicke, in denen man bei der aktuellen Lektüre auf eine Passage stösst, die genau das zu beantworten scheint, was einen in ganz anderem Zusammenhang im Moment als Frage beschäftigt. So ist es mir im Fall dieses Zweifels gegangen.

Der österreichische Philosoph und Kulturwissenschaftler Robert Pfaller kommt in seinem neuen Buch[1] auf «weisse Lügen» und «schwarze Wahrheiten» zu sprechen, zwei Formen uneigentlicher Rede. In der Passage über die schwarzen Wahrheiten geht er von einer Formulierung Louis Althussers aus, wonach man, wenn man Thesen ausspreche, «die an die Grenzen des Verständlichen stossen, die Stelle des Unmöglichen einnehmen muss, um das Denken möglich zu machen». Habe ich mein Nachdenken über neue Formen der Kultur nicht gerade damit möglich gemacht, ging mir da beim Lesen durch den Kopf, dass ich mit der ex-territorialen Kultur eine in dieser Welt unmögliche Position eingenommen habe?

Das Problem schwarzer Wahrheiten sei, führt Pfaller aus, dass sie zwar «durchaus aufrichtig [seien] in Bezug auf das, was sie sagen – aber sie werfen die Frage auf: Ist es möglich, das zu meinen, was sie sagen?» Seine Antwort: Schwarze Wahrheiten seien «schwierig zu meinen», denn sie «überzeugen niemanden». Was eine schwarze Wahrheit sage, möge «ganz vernünftig sein, nur ist es schlechthin skandalös, es überhaupt zu sagen». Und zwar deshalb, weil sie «von einem ‘unmöglichen Standpunkt’ aus vorgetragen» werde. Schwarze Wahrheiten seien jenseits jeder realpolitischen Vernunft das, «was die Lage selbst zu ihrer Rechtfertigung vorbringen würde, wenn sie denn sprechen könnte». Deshalb beschrieben und bestätigten solche Wahrheiten «bestimmte Zustände […], um ihnen den schützenden Überbau zu entziehen und sie dadurch unmöglich zu machen».

Weil ich mit der Behauptung einer ex-territorialen Kultur die Aussage, der Kulturmarkt sei ein unhintergehbares Naturgesetz, als ideologische Konstruktion entlarve – sie ist selbstverständlich eine kulturpolitisch beeinflussbare Tatsache –, ist die Behauptung sinnvoll. Auch, weil aus ihr der Gedanke folgt, Kultur innerhalb des Marktes – also mehr oder weniger alles, was heute an kulturellen Erzeugnissen produziert und hinter Kassenhäuschen feilgeboten wird – sei zu verweigern, «weil der Markt alle denkbaren kulturellen Bemühungen zunichte macht». Und zwar, indem er sie in Produkte verwandelt.

Pfaller sagt auch: «Schwarze Wahrheiten durchbrechen das Verträumte oder Heuchlerische einer Situation und sprechen stattdessen die Sprache ihrer Struktur.» Auch das passt für die These einer ex-territorialen Kultur: Kultur innerhalb des Marktes pflegt entweder idealistisch das Verträumte (bestenfalls das Erträumte) oder kaltschnäuzig das Heuchlerische einer bestmöglich verkäuflichen «Kritik».

Zweifellos: Zumindest für mich habe ich eine andere Kultur denkbar gemacht.

[1] Robert Pfaller. Erwachsenensprache. Über ihr Verschwinden aus Politik und Kultur. Frankfurt am Main (Fischer) 2017, S. 93-99.

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