Das Werkstück von R.

Ich habe einen Cousin, R., mit dem ich vor mehr als fünfzig Jahren in Roggwil die Schulen besucht und Schach gespielt habe. Später trennten sich unsere Wege. Er wurde Elektrotechniker und ist aus seiner öden letzten Stelle in die Frühpension geflüchtet. Seit Jahren leben wir beide in Bern und stehen seither als bewährt gute Kollegen wieder in regelmässigem Kontakt. Ab und zu schaut er sich in meiner elektronischen Textwerkstatt um, und er verfolgt auch das entstehende Onlineprojekt «Stückwerk». Letzthin hat er mir nun gemailt, dass er auch ab und zu notizenartige Texte im Sinn meiner «Werkstücke» schreibe. Mit seiner Erlaubnis dokumentiere ich das Beispiel, das er seiner E-Mail beifügte:

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«Grenzwertbetrachtung / die Extreme betrachten um die Funktion zu verstehen

Ein didaktisch geschickter Lehrer (heute heisst das dort Dozent) hat uns vor vierzig Jahren den Tipp gegeben, zuerst die Extrem- oder Anfangs-/End-Zustände einer veränderlichen Grösse zu betrachten, das erleichtere das Verstehen der Zustände dazwischen. Das bezog sich damals zwar auf Einschwingvorgänge elektrischer Schaltkreise oder mathematische Funktionen im Allgemeinen, das sei aber ein generell nützlicher Tipp für das Leben.

Und dem ist tatsächlich so. Nehmen wir z.B. die Erdbevölkerung: Wenn es keinen einzigen (also null) Menschen gibt, so ist es ziemlich einsam und bei unendlich vielen ein Gedränge – das ist trivial. Interessant und schwieriger ist es, die optimale Anzahl für die gegebene Situation (Raum, Ressourcen) zu finden. Aber aus der Grenzwertbetrachtung weiss man bereits, dass unbegrenztes Wachstum nicht geht. 

Man könnte locker ein ganzes Büchlein mit solchen Grenzwertbetrachtungen füllen, vom idealen Rotweinkonsum bis zur philosophisch anspruchsvollen Frage des optimalen Kontostandes. Vielleicht fange ich in den bald kommenden kalten Wintertagen eine Sammlung solcher Betrachtungen an – ich zweifle aber, dass die Welt auf dieses Büchlein wartet. 

Übrigens: Die witzigste Grenzwertbetrachtung die ich bisher gehört habe, geht so:
Fragt ein Mann eine attraktive Dame in der Bar, ob sie bereit wäre, für eine Million Dollars mit ihm Sex zu haben. – Ohne langes Abwägen lässt sie durchblicken, dass das wohl so wäre. – Da fragt der Mann dreist, ob sie es auch für einen Dollar machen würde. – Erbost weist die Dame das Ansinnen zurück. – Da fasst der Mann zusammen: ‘Prima, so sind wir uns ja im Grundsatz einig, es geht nur noch um den richtigen Betrag.’»

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Ich dokumentiere dieses Werkstück einerseits, weil ich es wirklich spannend und gelungen finde, andererseits, weil mein «Stückwerk» ein Beispiel sein soll für etwas, das man demokratisches Kulturschaffen nennen könnte (etwas, das es innerhalb des Kulturbetriebs nicht gibt, in einem Land, in dem es eigentlich nichts anderen geben dürfte): Ich gehe davon aus, dass beim Bildungsstand und den durchschnittlichen Schreibfähigkeiten der Bevölkerung in diesem Land zweifellos hunderte von Leuten fähig wären, ein Stückwerk zusammenzubauen, wie ich das zurzeit hier tue. Und sicher einige Dutzend davon wären eigentlich gar nicht abgeneigt, es zu versuchen.

Darauf sage ich: Versuch’s!

v11.5