Tonikagefälle

Das dramaturgische Element in der Musik der funktionalen Harmonik ist das latente «Tonikagefälle» jedes musikalischen Ablaufs. Die harmonisch entfernteren Wendungen werden aufgehoben in der Gewissheit der schliesslichen Rückkehr zur Tonika, also in den Akkord des Grundtons. Die grösste harmonische Irritation in dieser Musik ist die Modulation in eine gewöhnlich benachbarte Tonart, die nichts anderes ist als die Plausibilisierung einer neuen Tonika mit analoger Funktion. Was abläuft, ist in jedem Moment, wenn nicht sofort verständlich, so doch rekonstruierbar als eine in Raum und Zeit des ästhetischen Gebildes dominierende Kausalität.

Allgemein entsteht Tonikagefälle überall dort, wo das Regelwerk des ästhetischen Gebildes durchschaubar ist. Jede Kunstgattung jeder Epoche hat ihr eigenes Tonikagefälle – weshalb es häufig einfach ist, Kunstwerke einer bestimmten Epoche zuzuordnen. Man hört, sieht, liest sie auf den entsprechenden Grundton hin. Sowohl die Problemstellung als auch der Grad der Lösung oder des Scheiterns werden überprüfbar. Die Pointe der Rezeption ist die Evidenz. Aus der Perspektive der Produktion: Tonikagefälle macht die ästhetische Unternehmung zum tendenziell pädagogischen, weil auf kommunikative Nachvollziehbarkeit angelegten Projekt.

Deshalb: Kein Versuch der Aufklärung im Bereich der Ästhetik ohne Tonikagefälle. Umgekehrt: Keine Aufklärung ohne Postulierung eines Regelwerks. Die Schwierigkeit: Es gibt kein Regelwerk ohne Grenzen und Schwächen (Regelwerke sind die Gerüstbauten am Tempel einer konkreten Affirmation. Jede Affirmation ist kritisierbar, widerlegbar, negierbar.) Diese Begrenztheit hat das Anlegen von Regelwerken für das Kunstschaffen der Moderne obsolet gemacht. An die Stelle von handwerklichen Regeln trat immer mehr der Begriff der Autonomie. Diese Art der künstlerischen Freiheit verweigert Kritik entlang von objektivierbaren Kriterien.

Deshalb versucht die Kunsttradition der Moderne in allen Sparten, Tonikagefälle zu vermeiden. Sie konfrontiert die Rezeption tendenziell unvermittelt mit einem in seiner Regelhaftigkeit (zumindest kurzfristig) nicht nachvollziehbaren (also tendenziell hermetischen) Sosein. Das Werk ist primär stumm, weil es sich weigert, pädagogisch vorgespurte Bedeutungsbestimmungen mitzuliefern. Dieser Stummheit Sprache zu geben ist Sache der Rezeption. Weil diese damit zu Arbeit wird, die passiver Konsumismus nicht zu leisten bereit ist, gibt heute in aller Regel eine exklusive Kaste von hohepriesterlichen KunstexegetInnen die Bedeutungsrahmen der aktuellen Kunst aller Sparten vor. Dass solche Werke erst im Bewusstsein der rezipierenden Subjekte entstehen, macht sie ohne steuerbare Exegese unberechenbar, das heisst vom Willen der Produzierenden unabhängig und deshalb unkontrollierbar. Die Werke sind ohne objektivierbare «Aussage», sie wollen als ein bedeutendes «Irgendetwas» verstanden werden, das von der Exegese herrschaftskonform definiert wird. Deshalb sind Kunstschaffen und seine öffentliche Kritik symbiotisch zu einem Ganzen verschmolzen. Ohne Kritik ist Kunst nichts. Und umgekehrt.

Ästhetische Gebilde mit Tonikagefälle dagegen vermitteln ihre innere Regelhaftigkeit als Werk. Ihre Rezeption entschlüsselt sie zu eindeutigen Aussagen. Das ist ihre Qualität. Ästhetische Werke ohne Tonikagefälle dagegen sind hermetisch; Ihre von KunstexegetInnen ungesteuerte Rezeption liesse sie als eine Gemengelage nicht näher bestimmbarer Phänomene erscheinen: als reine Quantität.

Die europäische Kunst hat gegen die Totalitarismen des 20. Jahrhunderts ihre Autonomie um den Preis des Tonikagefälles in ihren Werken verteidigt. Für eine kleine Minderheit blieb sie damit ein Wegweiser der ästhetischen Integrität. Für die grosse Mehrheit eine zu ignorierende Unverständlichkeit. Im Ästhetischen gibt es keine Rezeption ohne Empathie. Bloss ist diese Empathie in Fragen der Kunst ein soziales Privileg mit robustem materiellem Boden.

(01.01.1991, 22.12.1997; 15.+20.11.2017; 03.07.2018)

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