Die dritte Frage

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Wider die «Schwanz-voran-Kunst». – Jede künstlerische Äusserung, die mehr ist als Zeitgeistspektakel und Spitzenartistik, hat nicht nur ein selbstgestelltes ästhetisches Problem zu lösen (beantwortet werden muss das «Wie?», das aus dem «Was?» folgt), sondern auch ein ethisches. Die ethische Frage in der Kunst ist jene nach dem «Warum?» Sie ist die grundsätzliche: Warum soll ich als Kunstschaffender eine bestimmte künstlerische Äusserung hier und jetzt tun?

Seit dem 18. Jahrhundert antwortet das in aller Regel männliche Genie: Weil ich sie tun muss. Diese Antwort verweist darauf, dass Kunst in der Tradition des Geniekults zwangsneurotisch ist, wenn sie die ethische Verantwortetheit ihres Tuns nicht überhaupt ignoriert. Wer etwas unerzwungen tut, weil er «muss», behauptet eine aussersoziale Kraft, die wolle, dass das Gewollte getan werde. Das tut der religiöse Wahn, der predigend nötigt oder tötend richtet. Das tut aber auch der verliebte Mann, der Schwanz voran zum Beispiel soziale Netze zerreisst, um seine Verliebtheit leben zu können. Solche Männer regredieren von sozialen Wesen zu Naturkatastrophen: Was Gender ist, soll als biologisches Fatum wahrgenommen und ertragen werden.

Insofern ist eine Kunst in der Tradition des männlichen Geniekults eine a-ethische «Schwanz-voran-Kunst»[1]. Ethisch verantwortete Kunst dagegen hat nicht selten etwas Bemühtes, weil sie die Zweifel, die ihr vorausgegangen sind, transportiert als (ver)störende Risse, die durch das Werk gehen.

Nicht auszuschliessen ist, dass die Faszination genialer Kunst auch darin liegt, dass ihre Demonstration sozialer Unverantwortetheit – die inszenierte Behauptung einer Getriebenheit, die grösser ist, als das eigene Wollen – einen gewissen erotischen Reiz von Verliebtheit auszuüben vermag: Geht es auch hier um ein Kokettieren mit dem Tier-Tabu?

[1] Der geplagte Redaktor bittet an dieser Stelle alle weiblichen Genies um Verzeihung für diese ausschliessende Metapher.

(29.04./24.05.2005; 16.+19.11.2017)

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Die drei Fragen vor dem Text. – Bevor du – frei und nur deinem Schreiben als Kunst verpflichtet – einen Text zu schreiben beginnst, hast du, ohne dir das gewöhnlich bewusst zu sein, drei Fragen beantwortet. Wenn du dir die Fragen bewusst machst, wirst du mir zugeben müssen: Die erste ist einfach, die zwei schwierig und die dritte gar nicht zu beantworten.

• Die erste Frage lautet: Was soll ich schreiben? Sie ist deshalb einfach zu beantworten, weil man grundsätzlich über alles irgendetwas schreiben kann.

• Die zweite Frage lautet: Wie soll ich es schreiben? Sie ist schwieriger zu beantworten, weil du nicht für jedes Thema, über das du schreiben möchtest, die überzeugende Form finden wirst.

• Die dritte Frage lautet: Warum soll ich den Text schreiben, für den ich das Thema kenne und die Form gefunden habe? Diese Frage nach der Notwendigkeit des Schreibens ist unbeantwortbar, denn es gibt nichts, das mit unabwendbarer Notwendigkeit gerade von dir gerade jetzt geschrieben werden müsste. Die Antworten, die du auf diese dritte Frage findest, sind Notlügen: Weil ich muss, zum Beispiel. Oder: Weil nur ich das richtig schreiben kann. Oder: Weil ich mein Publikum damit beglücken will. – Jaja.

Aber abgesehen von solchen Sprüchen: Warum musst du deinen nächsten Text wirklich schreiben? Nicht dass ich behaupte, ein geschriebener Text sei von vornherein mit Sicherheit für nichts und niemanden notwendig. Aber du, der du dir diese Frage vor dem Text stellst, kannst sie nicht beantworten, sonst wäre dein Schreiben nämlich nicht frei, sondern instrumentell. Das aber, bildest du dir ein, sei dein Schreiben eben gerade nicht, sondern autonom und du selber schreibend nur deiner Kunst verpflichtet. – Jaja.

Abgesehen davon, dass freies Schreiben überall dort, wo die Schreibenden mit ihrer Arbeit die Existenz (mit)finanzieren, als kleingewerblich betriebene Lohnarbeit von vornherein instrumentell ist, stelle ich fest: Du schreibst, obschon du nicht weisst, warum du das tust. Aber mach dir nichts draus: Bei allen anderen ist es genau so. Und Literatur ist ein Text noch schnell einmal.

Oder andersherum: Wäre dein freies Schreiben ethisch verantwortet, müsstest du seine Freiheit freiwillig in den Dienst der dir richtig scheinenden Sache stellen. Freies Schreiben macht von seiner Freiheit in einem ethischen Sinn nur dann Gebrauch, wenn es freiwillig auf seine Freiheit verzichtet. Freies Schreiben, das seine Freiheit nicht nutzt, aus einer ethischen Notwendigkeit heraus instrumentell sein zu wollen, taugt zu nichts als zu Kunst.

(12./17./24.05.2005; 16.11.2017; 03.07.2018)

 

Nachtrag

2007 habe ich als Mitherausgeber der C. A. Loosli-Werke (zusammen mit Erwin Marti und Andreas Simmen) am Band 4, «Gotthelfhandel», gearbeitet, der Loosli als literarischem Schriftsteller gewidmet ist. Wie zu allen Bänden entwarf ich auch zu diesem ein Editorial (das später von den beiden Kollegen inhaltlich und formal korrigiert und redigiert worden ist) und widmete Looslis ethisch fundierter Ästhetik einen eigenen Abschnitt:

«1925 veröffentlichte Loosli […] unter dem Titel ‘Ich schweige nicht!’ ein Buch, in dem er sich mit den Reaktionen auf das im Jahr zuvor […] erschienene ‘Anstaltsleben’ auseinandersetzte. Darin [heisst es]: ‘Man hat mir nahe gelegt, dass es in meiner Macht gestanden hätte, den Stoff künstlerisch zu gestalten. Gewiss, ich hätte das tun können. Allein – um diesen Einwand gleich vorweg zu nehmen – gerade das wollte ich nicht. Ein Anstaltsjugendroman wäre von vornherein, übrigens mit Recht, als Dichtung gewertet, als Phantasieerzeugnis beurteilt worden; ich aber hatte es mit Tatsachen zu tun, hatte Tatsachen sprechen zu lassen, die mehr als bloss literarische Bewertung heischten. Gewiss, ich achte die Kunst hoch, gestehe gerne, dass mir nichts vollkommener wäre als mich ihr ganz und ausschliesslich zu widmen, doch achtbarer, erhabener noch ist mir der Menschen Leiden, besonders wenn diese Menschen wehrlose Kinder sind. Gelingt es mir, das Los auch nur einer geringen Zahl unter ihnen lebenswerter, erträglicher zu gestalten, dann mag, was ich etwa künstlerisch geschaffen habe oder noch schaffen werde, samt meinem Namen versinken und vergessen werden.’

Diese Bemerkung ist eine zentrale ästhetische Stellungnahme des Schriftstellers Loosli, der er treu geblieben ist. Noch als er sich als bald Siebzigjähriger fragte, worin ‘die Sendung des berufenen, des eigentlich einzig in Betracht fallenden Schriftstellers’ bestehe, gab er eine ethisch begründende Antwort: ‘In der immerdar tätigen, ausstrahlenden, aufwertend befruchtenden Edelmenschlichkeit!’ Talent erschien ihm daneben lediglich als ‘allerdings ungemein wertvolles Hilfsmittel’.[2]

Die Kunst hat sich, so Loosli, in den Dienst der ‘Edelmenschlichkeit’ zu stellen; die ästhetische Anstrengung, mit anderen Worten, in den Dienst der ethischen. Neben dem professionellen Berufsverständnis war es dies, was Loosli – zusammen etwa mit seinem Freund Jakob Bührer – trennte vom grösseren Teil der schreibenden Zunft im Land.»[3]

In diesem Punkt bleibe ich Looslianer.

[1] C. A. Loosli: Ich schweige nicht! Bern (Pestalozzi-Fellenberg-Haus) 1925, S. 4.

[2] C. A. Loosli: Als freier Schriftsteller. Typoskript, 1944, S. 6 + 10f.

[3] Zitiert nach: C. A. Loosli: Gotthelfhandel. Werke Band 4. Zürich (Rotpunktverlag) 2007, S. 11f.

(14.+19.11.2017)

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