Versuch über Bichsels «Busant»

Im der Mappe, in der ich als Journalist Materialien über Peter Bichsel zusammentrage[1], finde ich eine 1985 verfasste, nicht veröffentlichte Rezension von dessen Buch «Der Busant»[2], Titel: «…wie wenn man die Wahrheit erzählen könnte». Warum der Text nicht gedruckt worden ist, weiss ich nicht mehr. Wäre er jedoch von der Redaktion abgelehnt worden, hätte mich das vermutlich so weit gekränkt, dass ich mich noch an diese Absage erinnern würde. Deshalb vermute ich, dass ich den Text der Redaktion nicht angeboten habe – vielleicht, weil er mir als Buchbesprechung selber zu eigenwillig erschien. Diese Eigenwilligkeit macht ihn heute für mich interessant genug, um ihn zum Werkstück zu adeln.

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«‘Während ich Geschichten erzähle, beschäftige ich mich nicht mit der Wahrheit, sondern den Möglichkeiten der Wahrheit. Solange es noch Geschichten gibt, so lange gibt es noch Möglichkeiten.’ (Peter Bichsel)[3]

Was weiss ein Kiebitz davon, was sich der vornübergebeugte Gartenschachspieler überlegt, der im Nieselregen über seine Figuren hinblickt? Reglos steht er in seiner Partie, zwischen seinen Bauern, Läufern und dem König, den lebenden Holzfiguren, für die er Namen erfindet: ‘Salomon Adalbert Meier – ein Name, so schlecht wie jede Erfindung.’ Er steht mitten in einer neuen Geschichte und prüft Varianten, Abspiele, Fortsetzungen. Über die Schultern von Trinkern und Polizisten – Leute, die noch Zeit für Geschichten haben – spähend, versuche ich als Kiebitz abzuschätzen, was der Gartenschachspieler überlegt, bevor er mit einem Bauernzug die Stellung verändert. Während der eine Polizist zum Ueli, dem Stallknecht von General Kosciuszko, hinüberbrummt: ‘Der Bichsel hat was im Sinn mit diesem Bauern’, könnte der Gartenschachspieler mit den Gedanken ganz woanders sein: ‘Je älter ich werde, um so mehr wird zur Erinnerung. Was einmal selbst etwas war und mich von aussen betraf, wird zum Bestandteil meiner Geschichte. Wenn einmal alles meine Geschichte ist, dann werde ich tot sein und zu einem kleinen Bestandteil einer andern Geschichte werden.’

Mit leerem Blick hängt derweil die schöne Magelone auf der andern Seite des Gartenschachbretts in einem rostenden Parkstuhl, betrunken, sagt wie von fern: ‘Die selbstverständliche Traurigkeit der Menschen macht sie zu Geschichtenerzählern.’ Und der Bichsel, der – das Schachbrett gedankenversunken langsam umkreisend – gegen sich selber spielt, zwinkert ihr zu. Gegner, tauchten sie an seinem Brett auf, würde er weder bekämpfen noch bezwingen; er nähme sie nicht zur Kenntnis, denn er spielt nicht auf Gewinn. Er spielt. Nach einiger Beobachtung aus der diskreten Distanz des zufälligerweise Vorübergehenden schiene es unzweifelhaft so, als spiele er gar nicht ernsthaft – nun mit einer glimmenden Zigarette im Mundwinkel, mit den Fingern der linken Hand von Zeit zu Zeit die grauen Haare nach hinten kämmend –, sondern er unterhalte sich bloss mit sich selber über das Spiel, und die fragmentarischen Zugfolgen, die er von Zeit zu Zeit leichthin entwickle, seien Belege, wie gespielt werden könnte.

Und während der Bichsel am Brett leichthin sagt: ‘Wisst ihr, es ist genau wie beim Schach: Das Erzählen, nicht sein Inhalt ist das Ziel der Literatur’ und die schöne Magelone dazwischenruft: ‘Eine Geschichte ist immer auch eine Geschichte über eine Geschichte, stimmt doch, oder?’, sagt der Polizist: ‘Ich wusste, er führt was im Schilde’, gibt dann seinem Kollegen ein Zeichen. Sie schlendern durch den Park davon, in angeregtem Gespräch, wie es scheint. Ueli, den das alles nichts anzugehen scheint, schaut den beiden nach und sagt dann liebevoll: ‘Die dumme Sieche.’ Magelone Lehmann lacht.

Der Kiebitz, der bisher geduldig zugeschaut hat, beginnt sich einzubilden, etwas zu verstehen von Bichsels Spiel: Was soll der die Partien verbiestert zu Ende spielen, wenn es doch nach jedem Zug nötig wird, das Ganze grundsätzlich in Frage zu stellen, von vorn zu beginnen, immer wieder abzubrechen? Solche wie dieser Bichsel sind zu nichts zu gebrauchen, die spielen und noch dann nicht gewinnen wollen, wenn die Zweifellosen bereits die Figuren aufgestellt haben für eine neue, gnadenlose Weltmeisterschaft. Wer aber könnte angeben, was es Besseres zu tun gäbe, als sich zu nichts mehr gebrauchen zu lassen?

Wenn der Bichsel später ins ‘Kreuz’ hinüber geht, um sich zu Marti, dem abgestürzten Buchhalter, an den Tisch zu setzen und seinen Zweier Twanner zu trinken, so wird er vielleicht plötzlich sagen: ‘Es ist jetzt alles ganz anders. Sie sitzen jetzt in den Kneipen und haben für alles, was sie sagen, die schriftlichen Beweise in der Tasche – wie wenn man die Wahrheit erzählen könnte. Die könnte man höchstens, wenn es sie gibt, sagen. Seit es keine Halbwahrheiten mehr gibt, sind die Leute nicht mehr frei. Die Freiheit des Wortes gilt jetzt überall nur noch für die Wahrheit. Keiner mehr lächelt über Halbwahrheiten, sie streiten nur noch verbittert über die Wahrheit.’

Und der Kiebitz, an einem andern Tisch beim Bier, sich einbildend, heute etwas gelernt zu haben, versucht für sich, Bichsels Worte in die Schachsprache zurückzuübersetzen: Mörderisch ist die Gefahr, die von den Schachmatt-Sagern ausgeht, weil sie nichts anderes wollen, als das Spiel zu gewinnen und damit zu beenden. – Vielleicht könnte auch Bichsel mit dieser Übersetzung leben.»

[1] Dieses Material liegt heute im Schweizerischen Literaturarchiv, Nonkonformismusarchiv Fredi Lerch, Signatur: Lerch-2-02-1-01.

[2] Peter Bichsel: Der Busant. Von Trinkern, Polizisten und der schönen Magelone. Darmstadt und Neuwied (Luchterhand) 1985.

[3] Peter Bichsel: Der Leser. Das Erzählen. Frankfurter Poetik-Vorlesungen. Darmstadt und Neuwied (Luchterhand) 1982, S. 11.

(1985, 3.4.1999; 07.11.2017; 30.06.2018)

 

Nachtrag

Dieser Text hatte tatsächlich nicht sehr viel mit einer zünftigen Zeitungsrezension zu tun. Trotzdem gefällt er mir heute besser als das, was ich damals im Rahmen einer Sammelrezension zu Bichsels «Busant»-Erzählungen öffentlich gesagt habe.

(10.11.2017)

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