Hohls vertikale Fluchtbewegung

«Wie eine ansteckende Krankheit», schreibt Paul Nizon 1970 in seinem «Diskurs in der Enge», ziehe sich «das Fluchtmotiv […] durch die schweizerische Literatur», ob als Landesverrat wie bei Jakob Schaffner, als «Zuflucht zum Rauschgift» wie bei Friedrich Glauser oder als Freitod wie bei Alexander Xaver Gwerder. «Als mildere, in ihrer Tragik weniger offensichtliche Formen der Flucht wäre der Ausweg in die innere Emigration oder (neuerdings) in den Untergrund zu nennen. Für beides drängt sich als Beispiel die Situation eines Ludwig Hohl auf, der im fremdsprachigen Genf, nur deutsche Schriftsprache sprechend, in einem legendär gewordenen Keller als ebenso legendärer Trinker (und Schaffer) haust – ein Heimatloser und Nichtintegrierter par excellence.»[1]

Diesen analysierten Fluchtbewegungen hat Nizon in den siebziger Jahren seine eigene hinzugefügt: Er ging nach Paris ins freiwillige Exil. Dies war eine Fluchtbewegung in der Horizontalen, die paradigmatisch wurde für viele zunehmend saturierte dissidente Schreibende, die lieber in Paris, Rom, Berlin und anderswo den Schweizerschriftsteller machten, als hier zu sagen, was nötig gewesen wäre. Solche Flucht ist, scheint mir, bloss ein biederer Abklatsch auf die Tragik der Vergeblichkeit von Hohls Fluchtversuchen aus dem Kerker der geistigen Landesverteidigung.

Ludwig Hohl ging als 20jähriger nach Paris – später nach Wien, dann nach Den Haag – und kehrte 1937 in die Schweiz zurück, die ihm zu einer Enge wurde, die Nizon nie gekannt hat. In Paris begann er als lernender Autodidakt Heft um Heft seiner «Epischen Grundschriften» vollzuschreiben. In Heft 4 zum Beispiel einen Text mit dem Titel «Der arme Johann» – aus dem schliesslich die erst 1975 publizierte Erzählung «Bergfahrt» entstand.[2] Darin findet Ull, einer der beiden beschriebenen Bergsteiger, eine Antwort auf die Frage, warum man auf Berge klettere: «Um dem Gefängnis zu entrinnen.»[3] Nimmt man diese Antwort zusammen mit der Tatsache, dass Hohl in Genf zwischen 1954 und 1975 in einem Kellerraum, also im Untergrund hauste, wird klar, dass er sich die Fluchtbewegung nicht wie Nizon in der Horizontalen, sondern in der Vertikalen dachte.

Nizons äussere Emigration des freiwilligen Exils ist mir immer als manierierter Pseudoprotest erschienen: Sein Diskurs denunzierte die Enge zu einem Zeitpunkt, als sie von den Nonkonformisten und den Neuen Linken bereits mit einem gewissen Erfolg gesprengt worden war; insofern stand seine «Enge» weniger für eine gesellschaftskritische Diagnose als für ein persönliches Problem.

Während Nizon ausserhalb der schweizerischen Enge neue Räume fand, in denen sich leben und arbeiten liess, lebte Hohl existentiell unter und intellektuell über dieser Norm, obschon er schon in der «Bergfahrt» wusste, dass sich dort eigentlich nicht leben lässt: Kurz nachdem Ull zur Einsicht gelangt, auf Berge zu steigen, um dem Gefängnis zu entkommen, rutscht er in einen «Bergschrund» ab, «der weiter und tiefer war, als angenommen werden konnte, – und ward nicht mehr gesehn.»[4]

[1] Paul Nizon: Diskurs in der Enge. Frankfurt (Suhrkamp) 1990, S. 174f.

[2] Elio Pellin: «Mit dampfendem Leib». Zürich (Chronos Verlag) 2008, S. 29.

[3] Ludwig Hohl: Bergfahrt. Frankfurt (Suhrkamp) 1975, S. 87f.

[4] Ludwig Hohl, a.a.O., S. 92.

(6.3.2004; 08.11.2017; 02.07.2018)

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