Die Wellenlängen Frischs – das Visionäre Dürrenmatts

1.

Im «Tagebuch 1946-1949» ist Empathie für Max Frisch das aussersprachliche Mittel zur Aufhebung der Sprachentfremdung des Sprechenden: «Heimat ist der Mensch, dessen Wesen wir vernehmen und erreichen. Insofern ist sie vielleicht an die Sprache gebunden. Vielleicht; denn in der Sprache allein ist sie ja nicht. Worte verbinden nur, wo unsere Wellenlängen übereinstimmen; das wiederum heisst nicht Einverständnis, das es nirgends so häufig gibt wie unter Wesensfremden, die einander missdeuten, sondern Erreichbarkeit […].»[1]

Heimat in der Sprache entsteht ausserhalb der Sprache, durch «Erreichbarkeit», durch Empathie; fehlt sie, führt «Wesensfremdheit» zum unverbindlichen, missverständlichen «Einverständnis». Sogar unter Liebenden ist Sprache eine Gefahr; ihr Fehlen erleichtert «Liebe, die sich kein Bildnis macht». Die Schwierigkeit, wenn Menschen sich sprachlich begegnen: «Sprache als Gefäss des Vorurteils! Sie, die uns verbinden könnte, ist zum Gegenteil geworden, zur tödlichen Trennung durch Vorurteil. Sprache und Lüge! Das ungeheuere Paradoxon, dass man sich ohne Sprache näherkommt.» Daraus die skeptische Diagnose der heutigen, entfremdeten Sprache, die «heillos» geworden sei, «keine menschliche Sprache, sondern eine Sprache der Sender und eine Sprache der Zeitungen, eine Sprache, die hinter dem tierischen Stummsein zurückbleibt. Der Turm zu Babel; wenn es an der Zeit ist, dass uns diese Art von Sprache entrissen wird.»[2]

Anders: Für Frisch wird Sprache erst durch ein Aussersprachliches – die Empathie – zur Sprache (als wären Wörter mit dem Herzen neu zu konnotieren); Sprache ohne diesen Schein, der «Heimat» meint, ist ihm weniger als tierisches Stummsein. Gegen die unbestrittene Entfremdung des Materials vom Sprechenden setzt Frisch hier übereinstimmende «Wellenlängen», also Metaphysik.

[1] Max Frisch: Tagebuch 1946-1949, in: ders.: Gesammelte Werke Band 2. Frankfurt am Main 1986 (Suhrkamp), S. 697.

[2] Ganzer Abschnitt: Max Frisch, a.a.O., S. 536f.

2.

Die Welt ist, so Frisch, aussersprachlich: «[…] Jedes Erlebnis bleibt im Grunde unsäglich, solange wir hoffen, es ausdrücken zu können mit dem wirklichen Beispiel, das uns betroffen hat. Ausdrücken kann mich nur das Beispiel, das mir so ferne ist wie dem Zuhörer: nämlich das erfundene. Vermitteln kann wesentlich nur das Erdichtete, das Verwandelte, das Umgestaltete, das Gestaltete».[1] Das persönliche Erleben in der Welt, also «die eigene Welt», ist nicht in einer spezifisch eigenen Sprache darstellbar, sie bleibt «unsäglich».

Die eigene Welt ist nicht kompatibel mit der vorgegebenen Sprache.[2] Sie ist nur vermittelt – auf dem Umweg über die Fiktion – in Sprache zu fassen: Nicht von der Welt, sondern von der Sprache ausgehend entsteht der Schein des Abbildung von Welt. Moralisch rigoros: Sprache vermittelt nur insofern, als sie lügt. Umgekehrt und auf meine Arbeit bezogen: Um Wahrhaftigkeit bemühte journalistische Sprache vermittelt nicht.

[1] Max Frisch, a.a.O., S. 703.

[2] Für Friedrich Dürrenmatt sind «geschriebene Stoffe» «gefiltert, umgeformt, verformt, zwar immer wieder neu gestaltet, aber doch schliesslich abgeschlossen, zur Sprache gebracht, damit der Sprache angepasst, angenähert». Umgekehrt sagt Dürrenmatt über sich: «Ich zähle […] zu jenen Schriftstellern, die nicht von der Sprache her kommen, die sich vielmehr mühsam zur Sprache bringen müssen. Nicht weil ihre Sprache ihren Stoffen nicht gewachsen wäre: ihre Stoffe sind der Sprache nicht gewachsen, ausserhalb von ihr angesiedelt, im Vorsprachlichen, noch nicht genau Gedachten, im Bildhaften, Visionären.» (Friedrich Dürrenmatt: Gesammelte Werke Band 6, Stoffe 1. Zürich [Diogenes] 1991, 12f).

(24.12.1990; 18.12.1997; 07.11.2017; 29.06.2018)

 

Nachtrag

Das Werkstück stand bisher unter dem Titel «Heillose Sprache und unsägliche Welt». Weil es im Mäander der stiefväterlichen Begegnungen mit Autoren der nonkonformistischen Generation eingereiht war, habe ich nun die beiden erwähnten Autoren in den Titel gesetzt. Ansonsten musste ich zwei, drei Tage nachdenken, bis ich begriff, worum es mir in den beiden Abschnitten 1990 vermutlich gegangen ist: um meine damals aktuelle Frage nach dem Eigenen an der Sprache. Auf dieses Problem hin – so meine ich heute – habe ich damals die Zitate von Frisch montiert und die Fussnote zu Dürrenmatt gesetzt.

Falls das stimmt, ist es so: Weder Frisch noch Dürrenmatt verwenden den Begriff des Eigenen an der Sprache. Beide formulieren sie ex negativo: Weil es das, was ich als das Eigene bezeichnet habe, nicht gibt, verwirft Frisch Sprache als Heimat – das Äusserste, wozu Sprache taugt, ist die Fiktion –, Dürrenmatt verwirft sie als Medium zur Abbildung von «Stoffen». Weil die Sprache das nicht leistet, was die schriftstellerische Verwendung von ihr fordert, flüchten sich beide Autoren ins Aussersprachliche: Frisch in die Erreichbarkeit eines Du und in das «Paradoxon, dass man sich ohne Sprache näherkommt» – Dürrenmatt in das andere Medium seines künstlerischen Ausdrucks: ins «Bildhafte, Visionäre».

Meine Spekulation bleibt es, ob Frisch und Dürrenmatt damit einverstanden wären, dass es ihnen in den zitierten Passagen um etwas gegangen sei, das man mit dem «Eigenen an der Sprache» umschreiben könnte. Ziemlich sicher ist immerhin, dass auch ihnen die Sprache nicht die Lösung zur kunstvollen Kanalisierung ihrer künstlerischen Ergüsse gewesen ist – sondern das Problem, dass mit der Sprache das nicht gesagt werden kann, was man eigentlich müsste sagen können.

(07+09.11.2017)

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