Gerechtigkeit ohne Konsens

In der Aufklärung sind Konsens und Vernunft grundsätzlich zusammengefallen. Aufklärer dachten sich die konsensuale Übereinkunft als in ihrer Substanz vernünftig. Vernünftig erschienen seit der Aufklärung Ideen und Taten grosso modo dann, wenn gesellschaftlich privilegierte, weisse Männer unter Berücksichtigung ihrer Vorrechte Konsens über ihre Vernünftigkeit – in der Praxis also auch: über das weitere Vorgehen – erzielten. Unterdessen hat sich die Substanz des Vernünftigen verflüchtigt. Dieses erscheint, so bei Jürgen Habermas, nur noch im Rahmen eines Verfahrens als vernunftgenerierender Prozess innerhalb eines herrschaftsfreien Diskurses.

In dem Mass, in dem Habermas die konsensuale Vernunft herrschaftsfrei, also basisdemokratisch denkt, in dem Mass wird sie inhaltlich unfassbar: Ein basisdemokratisch hergestellter gesamtgesellschaftlicher Konsens ist ein Paradox. Er kippt notwendigerweise in das, was François Lyotard mit dem Begriff der «Paralogie» fasst und der notwendig wird, weil «Konsens ein veralteter und suspekter Wert geworden» sei, im Gegensatz zum Begriff der Gerechtigkeit: «Man muss also zu einer Idee und einer Praxis der Gerechtigkeit gelangen, die nicht an jene des Konsens gebunden ist.»[1]

Weil der «Rekurs auf grosse Erzählungen […] ausgeschlossen» sei und demnach nur kleine Erzählungen möglich blieben, sei auch bloss noch die «Hetereomorphie der Sprachspiele» möglich. Konsens über die «Spielzüge» in solchen Sprachspielen müsse «lokal» bleiben, und es gebe entsprechend eine Vielzahl endlicher, raum-zeitlich begrenzter Konsense.

Daraus schliesse ich, dass am Ende der Moderne Emanzipation im gesamtgesellschaftlichen Sinn nicht mehr konsensual herzustellen ist und sich demnach ausserhalb der Sprache vollenden müsste. Aber wie das? Klar, Emanzipation vollendet sich ja immer im Handeln. Bloss: Wie kann dieses Handeln gesamtgesellschaftlich vernünftig gedacht werden ohne die vorgängige Verständigung darüber mittels Sprache? Und: Kann ein Handeln, das nicht gesamtgesellschaftlich vernünftig gedacht ist, vernünftig sein?

Hilfe, bin ich am Ende doch kein Postmoderner?

[1] François Lyotard: Das postmoderne Wissen. Graz/Wien (Edition Passagen) 1986, S. 175-193; insb. 175 + 190f.

(4./9.12.1989; 31.10.2017; 27.06.2018)

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