Das Tier-Tabu

Der Überhang dessen, was ist, gegenüber dem, was noch werden könnte, wird grösser. Die Natur als übermächtiges Werdendes gibt es immer weniger. Mit ihrer Zerstörung wird die Welt als werdende und gewordene zerstört. Die Welt, wie sie ist, ist immer mehr gemacht. Was in Zukunft sein wird – so die Tendenz –, wird nicht geworden sein, sondern gemacht worden sein. Was der Welt als «Natur» geblieben ist, bezeichnet Ulrich Beck als «Naturverschnitt»; Natur als «die gesellschaftlich verinnerlichte, durch Arbeit, Produktion, Verwaltung, Wissenschaft rekonstruierte, normierte und an diesen Massstäben gefährdete und zerstörte Aussen-Innen-Ausstattung der zivilisierten Welt.»[1]

In einer solchen Welt die eigene Existenz als ein Gewordensein zu empfinden und zu denken, wird immer schwieriger. Schleichend wird die Vorstellung der eigenen Gemachtheit als normal akzeptiert: der Mensch als funktionierende oder reparaturbedürftige Maschine; der «minderwertige», schwer verunfallte oder alte Mensch als Ersatzteillager. Die Frage, ob man Ersatzteile nicht gezielt züchten sollte, wird denkbar, also diskutabel und – sind erst die ethischen Bedenken propagandistisch abgewehrt – auch praktikabel. Die Spitzenmedizin steht als gentechnisch gestützte Eugenik bereit.

Noch 1956 hat Günther Anders «prometheische Scham» definiert als Scham, «geworden, statt gemacht zu sein»[2]. Heute scheint es, als sei diese Form der Scham nur eine Übergangsphase gewesen im fortschreitenden menschlichen Bewusstseinsverlust seiner selbst als Teil der Natur. Der Grund für die prometheische Scham versinkt im Vergessen. Das Tier-Tabu ist installiert und verdrängt als Wahn der eigenen Gemachtheit das Bewusstsein von Gewordenheit und Vergänglichkeit.

Wenn der Mensch endgültig nicht mehr wissen wird, dass er als Tier Teil der Natur ist, wird seine Unterdrückbarkeit als immanentes Produkt gesellschaftlicher Notwendigkeiten unendlich gross geworden werden.

[1] Ulrich Beck: Gegengifte. Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1988, S. 64.

[2] Günther Anders: Die Antiquiertheit des Menschen, Bd. 1. München [Beck Verlag] 1987, S. 21-96, hier S. 24f.

(28.07.1987, 04.09.1997; 30.10.2017; 27.06.2018)

 

Nachtrag

Das Tier-Tabu war allerdings in Ansätzen schon immer ein Aspekt der zivilisatorischen Formung der Menschen. Dieses Tabu ist die Voraussetzung für die anthropozentrische Verblendung, kein Tier, sondern etwas Anderes, religiös gesprochen: Gottgemachtes zu sein. In meiner Argumentation würde die vollendete Naturvergessenheit der Menschen erst die Perfektionierung ihrer anthropozentrischen Verblendung ermöglichen – und diese erst seine unbegrenzte Manipulierbarkeit durch religiöse Glaubensinhalte.

Aber wie das? Leben wir in den hochindustrialisierten westlichen Ländern nicht in weitgehend säkularisierten Gesellschaften mit kirchlichen Strukturen knapp vor dem Kollaps?

In meiner Argumentation müsste ich diese Tatsache so wenden: Richtig, kirchliche Strukturen werden mehr und mehr überflüssig. Aber nicht, weil die Gesellschaften vollständig säkular geworden wären, sondern im Gegenteil: weil die anthropozentrische Verblendung nicht mehr gepredigt werden muss. Die Mission ist abgeschlossen, das Tier-Tabu ist implementiert, die Verblendung ist zur unhinterfragbaren Voraussetzung der Erkenntnis geworden. Gemachte Maschinen brauchen keine Götter der Gewordenheiten. Das Entscheidende an diesem Wahn ist nicht das Bewusstsein, gottgemacht zu sein, sondern jenes, gemacht zu sein. Das Tier-Tabu insinuiert nicht nur, kein Tier, sondern vor allem: nicht Natur zu sein. Es lehrt: Mir können die Klimakatastrophen des 21. Jahrhunderts nichts anhaben. Kaputt geht ja höchstens die Natur.

(30.10.2017; 27.06.2018)

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