Zerstört Kunst Kultur?

Seit jeher zählt man die Kunst als Teil zur gesamten Kultur. Was, wenn Kunst zwar nach wie vor aus der Kultur herauswachsen würde, jedoch zunehmend die kulturellen Prozesse blockierte, verhinderte oder gar zerstörte? Was, wenn die Kunst zur Autoimmunerkrankung der Kultur geworden wäre ?

(21.12.1995; 25.06.2018)

 

Nachtrag 1

Ist die Metapher «Autoimmunerkrankung» richtig? Plausibler wäre es, die Kunst als Parasitin der Kultur zu sehen, die diese aussaugt, ohne ihr etwas zurückzugeben. Oder: Kunst als die Holzäpfel der Kultur – oft schön anzuschauen, aber ohne Nährwert.

Kultur wirkt nur dort, wo sie vorgeformte Lebensweisen prozesshaft zu verändern beginnt. Kunstprodukte tun genau das in aller Regel nicht – ausser sie regen die Rezipierenden an, im Sinn eines kulturellen Prozesses Wege zu gehen, die sie sonst nicht gegangen wären. Solche Initiation anzuregen – Volksaufklärung! Neue Sichtweisen und Bewusstseinserweiterung! Et cetera! – dient den Kunstschaffenden als Schutzbehauptung, um als KleingewerblerInnen auf dem Marktplatz des Kunstbetriebs ihren Stand aufzustellen. Am Marktstand dienen die präsentierten Kunstprodukte dann jener Kultur, die alle weitergehenden kulturellen Prozesse blockiert. Als Waren dienen Kunstprodukte der Hegemonie einer antisozialen Interaktionform zwischen den Menschen: jener des Handels unter der Knute der unsichtbaren Faust des freien Marktes, der so frei ist, wie es prügelnde Fäuste eben sind.

(24.10.2005; 16.10.2017; 25.06.2018)

 

Nachtrag 2

Wichtig am Nachtrag 1 ist das Eingeständnis, dass der Markt eine Form von Kultur ist. Seit ich das Werkstück geschrieben habe, ist die Kommodifizierung auch im Bereich der künstlerischen Produktion weiter fortgeschritten: Sollte die Rede von der Hegemonie des Marktes auch im Bereich der Kunstproduktion 2005 noch eine polemische Spitze gehabt haben, so klingt diese Feststellung seither von Jahr zu Jahr trivialer. Es ist der Moment, wo der Halbwüchsige seinem Grossvater auf die Schulter klopft und gutmütig brummt: «Willkommen in der Wirklichkeit.»

Meine Argumentation impliziert, dass der Sündenfall von Kunstschaffenden der Gang auf den Markt sei. Das heisst kurzum: Professionelles Kunstschaffen ist unter den heutigen Bedingungen nicht möglich (ob es das in meiner Perspektive je gewesen ist, bezweifle ich). Sicher ist es – meine Argumentation vorausgesetzt – heute so: Entweder geht man einer Lohnarbeit nach respektive lässt sich im privaten Umfeld finanziell aushalten oder man kämpft dafür, dass Kunstschaffen vom Staat umfassend subventioniert wird – und lässt jenes bleiben, solange dieser nicht existenzsichernd zahlt.

So gesehen forderte ich das Ende des Kunstschaffens, solange es sich nicht in vollständige staatliche Abhängigkeit begeben will. Was ich davon im Ernst bloss fordern möchte, ist dies: Kunstschaffende sollen selbstkritisch prüfen, wes Lied sie singen, bevor sie sich ihrem ach so freien Schaffen widmen.

(16.10.2017; 25.06.2018)

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