Zur Historisierung der Rahmen-Hypothese

I

Öffentlichkeit im Bereich der Kunst als Illusion: In dem, was ehedem als Öffentlichkeit galt, hat der konkrete Rahmen, in dem Kunst stattfand, eine untergeordnete Rolle gespielt. Die Öffentlichkeit war der umfassende Rahmen, der als das universale Gemeinte jeden konkreten Rahmen dominierte: Der konkrete Rahmen war – pars pro toto – die Öffentlichkeit.

Je mehr die Öffentlichkeit wegen ihrer kontrollierbaren Eindämmung mittels medialen Kanälen in pseudo-öffentliche Segmente zerfällt, die sich nicht mehr als Ganzes einer homogenen Öffentlichkeit denken lassen, desto wichtiger wird der konkrete Rahmen. Seine Aufgabe ist es, der tatsächlich ins Private verbannten Kunst den Schein von Öffentlichkeit zu geben. In dem Mass, in dem Öffentlichkeit in der Kunst und durch die Kunst nicht mehr herstellbar ist, in dem Mass wird der Schein von Öffentlichkeit als Legitimation für das künstlerische Tun notwendig.

Während die Öffentlichkeit der Kunst zerfällt, wird sie als Ideologie um so dringlicher behauptet. Öffentlichkeit regrediert zu dem, was massenmedial als «Öffentlichkeit» hergestellt wird; als «öffentlich» bedeutend gilt, was dem Geschäft der Massenmedien dient. Was massenmedial transportiert werden will, muss sich auf das Geschäft der Massenmedien hin zurichten oder journalistisch zurichten lassen.

Es geht demnach um die Historisierung der Rahmen-Hypothese: Der Rahmen wird deshalb zunehmend wichtiger, weil sich die «Öffentlichkeit» laufend weiter verändert in Richtung ihres Zerfalls.

(28.04.1990; 14.09.2017)

 

Nachtrag 1: Die Begriffe «pseudo-öffentlich» und «privat» in dieser Werkstück sind unklar. Heute würde ich in beiden Formulierungen den Begriff «sub-öffentlich» einsetzen.

(27.09.1997)

 

Nachtrag 2: «Sub-öffentlich»? Merkwürdige Formulierung, die vermutlich sinngemäss «öffentlich in einem subkulturellen Sinn» heissen mag. Heute erscheint mir der Begriff der «Community», der die Cyber-Öffentlichkeit in unendlich viele Nischen fragmentiert, als mögliche Metapher zur Charakterisierung dieses Zerfalls.

(06.03.2008; 20.06.2018)

II

Giambattista Vico (1668-1744) war der Ansicht, «dass in verschiedenen Epochen zwangsläufig auch verschiedene ästhetische Wertvorstellungen herrschen».[1] Die historische Welt werde von den Menschen gemacht, also mache sich der Mensch auch seine ästhetischen Wertvorstellungen, die er laufend weiterdenke in die konkrete Gegenwart hinein. Andersherum: Ästhetische Wertvorstellungen sind nicht «objektiv» gesetzt, sondern immer historisch bedingt.

Insofern wir in eine nachmoderne Zeit eingetreten sind, muss demnach für die neue Gegenwart die Tauglichkeit der Ästhetik der Moderne überprüft werden. Insofern die seit der Aufklärung entstandene Öffentlichkeit auf kaltem, technologischem Weg in quasi-private Teilöffentlichkeiten fragmentiert worden ist, wird auch Öffentlichkeit zur Variablen der ästhetischen Diskussion.

These: Sobald der Begriff «Öffentlichkeit» in verschiedene Qualitäten zerfällt – ich könnte auch sagen: politisiert wird – muss der «Rahmen» in die ästhetische Diskussion eingeführt werden. Zwar bleibt richtig, dass ein Kunstwerk erst eines ist, wenn es «veröffentlicht» ist. Jedoch müssen sich Kunstschaffende jetzt in jedem Fall die Frage stellen (oder gefallen lassen): Warum machst du dieses Kunstwerk in diesem konkreten Rahmen öffentlich (und nicht in einem anderen)? Darum ist der Rahmen zur werkimmanenten ästhetischen Kategorie geworden.

[1] Peter Burke: Vico. Philosoph, Historiker, Denker einer neuen Wissenschaft. Frankfurt am Main (Fischer) 1990, S. 14.

(07.07.1990; 14.09.2017; 20.06.2018)

III

«Das Medium ist die Botschaft», sagt Marshall Mc Luhan. Der Kanal determiniert also das darin Transportierte. Und umgekehrt: Das Transportierte existiert ausschliesslich als Inhalt eines Kanals. Wenn diese beiden Aussagen richtig sind, dann lautet aus historisierender Perspektive die Frage an diese beiden Sätze so: Warum verwächst das Transportierte heute derart unauflöslich mit dem Kanal? Warum muss sich das zu Transportierende mit dem Nichtgemeinten der Kanallogik «kontaminieren», um öffentlich werden zu können?

War das denn früher anders? – Ja. In einer frühesten Zeit, stelle ich mir vor, stand jedem kommunikativ zu Transportierenden genau ein Kanal zur Verfügung, der umfassend war und mit dem sich das Individuum unvermittelt konfrontiert sah: die öffentliche Rede – zum Beispiel auf der Agora, wie der zentrale Versammlungsplatz der Städte im antiken Griechenland hiess.

In einer solchen Welt erübrigte sich in der Tat das Mitdenken eines Rahmens – im Sinn eines kanalisierten Öffentlichkeitsfragments – in der ästhetischen Diskussion. In dieser frühesten Zeit hätte man definieren können: Die Öffentlichkeit determiniert das Transportierte. Und umgekehrt: Das Transportierte existiert ausschliesslich als Inhalt der Öffentlichkeit. In Mc Luhans Worten: Die Öffentlichkeit ist die Botschaft. (Was dann realpolitisch ungefähr heissen würde: Was auf der Agora gesagt und verhandelt worden ist, gilt als öffentlich Gesagtes.)

Im Lauf der Jahrhunderte wurden zunehmend mediale Kanäle zwischen das zu Transportierende und die Öffentlichkeit geschaltet. Diese Kanäle waren nur noch relativ öffentlich und mit einem je unterschiedlichen Filter partikularer Interessen versehen. Mit dem Anwachsen der Zahl von Kanälen korrespondiert der Zerfall dessen, was man ehemals unter der «Öffentlichkeit» verstanden haben mag. Heute ist Öffentlichkeit eine Fiktion, eine Behauptung, die den Machtanspruch des kommunizierenden Kanals signalisiert, das von ihm Transportierte habe für die Rezipierenden – im Gegensatz zum von anderen Kanälen Transportierten – die Bedeutung einer Agorarede. Öffentlichkeit ist so verstanden nur noch eine Public Relations-Behauptung zur Imagepflege des transportierenden Kanals.

Öffentlichkeit muss heute paradox definiert werden: Öffentlichkeit ist ein Universum von Privatheit; sie ist die Gesamtheit der von Privatinteressen gesteuerten Kanäle, die in dieser Gesamtheit von niemandem überblickt werden kann. Und: Diese Kanäle funktionieren in aller Regel nur in eine Richtung und produzieren so einen ein-weg-kommunikativen Schein von Öffentlichkeit.

Im Vergleich zu einer frühesten Zeit muss ich deshalb heute «Öffentlichkeit» durch «Kanal» ersetzen. Mit anderen Worten ersetze ich einen konstanten durch einen variablen Faktor. Und – um zur «Rahmen»-Hypothese zurückzukehren – behaupte ich, es sei in der heutigen ästhetischen Diskussion unzulässig, Öffentlichkeit als Agora-Öffentlichkeit konstant zu setzen und deshalb als Aspekt des Kunstwerks zu vernachlässigen. So wenig es im alten Griechenland Massenmedien gab, so wenig gibt es hier und heute Öffentlichkeit. Darum muss, wer heute von «veröffentlichter» Kunst redet, über die sie determinierenden Kanäle – das heisst: über ihre Rahmen – reden.

(24.01.1991; 18.03.1998; 14.09.2017; 20.06.2018)

 

Nachtrag

Vor dem Hintergrund der seither schnell wichtiger werdenden Internet-«Öffentlichkeit» kommt der Begriff wieder stärker in Fluss: Ein-Weg-Kommunikation scheint überwindbarer geworden zu sein. Allerdings weniger in Richtung einer Zwei-Weg-Kommunikation – die bisher ihren Gegenbegriff gebildet hat –, sondern in Richtung einer diffusen Viel-Weg-Kommunikation über viele unverbundene elektronische Kanäle, die sich zunehmend überschneidet mit dem Bild einer monologischen Rede in einen echolosen Raum. Oder präziser: einer Ansprache ohne Podium und Lautsprecher mitten in einer unabsehbaren Masse von ihrerseits intensiv vor sich hinreferierenden Leuten. Mit dem Eifer des Referierens steigt die Unmöglichkeit zuzuhören. Mit dem Lärmpegel steigt die Atomisierung.

(06.03.2008; 14.09.2017; 20.06.2018)

v11.5