Was wäre eine ethisch verantwortete Kunst?

 

 

1. Der Schein von Werkhaftigkeit und Überzeitlichkeit

Den Kunstmarkt beherrscht ein ökonomisch nicht erklärbares Missverhältnis zwischen Angebot und Nachfrage. In keinem anderen Markt wäre es denkbar, dass eine Mehrheit der AnbieterInnen weiter produziert, obschon sie mit ihrer Arbeit nichts oder doch bedeutend weniger als das Existenzminimum verdient. Diese Tatsache hat sich im Laufe der letzten zweihundert Jahre tief in die Kunstproduktion eingeschrieben und zu einer marktdiktierten Doppelstrategie der AnbieterInnen geführt, die diese heute als konstituierend für jegliche Kunst zu betrachten geneigt sind: zur Forcierung der Werkhaftigkeit von Kunst und zur impliziten Behauptung ihrer überzeitlichen Gültigkeit.

Die forcierte Werkhaftigkeit, das heisst der Zwang, die künstlerische Arbeit als Ware möglichst restlos zu verwerten, ergibt sich aus den ökonomischen Zwängen, aus dem legitimen Versuch, von der eigenen Arbeit irgendwie leben zu können. Weil dieser Versuch aber für die überwiegende Mehrheit der AnbieterInnen mit jeder neuen Arbeit erneut scheitert, muss die Legitimation dieser Arbeit zusätzlich eine nicht-ökonomische Dimension haben. Diese Dimension ist die Behauptung einer überzeitlichen Gültigkeit des eigenen Werks, im Sinn von: Ich habe zwar keinen Erfolg, weil ich meiner Zeit voraus bin; später – möglicherweise posthum – wird er um so sicherer eintreffen und um so grösser sein. Dieses kompensatorische Argument ist analog konstruiert wie das ethisch-moralische in Glaubensfragen, wonach das demütig erlittene Unrecht dieser Welt nach dem Tod in einem jenseitigen Paradies kompensiert werde.

In dieses Argument eingeschrieben ist implizit auch ein zentrales Ideologem der Moderne: der Glaube an einen «Fortschritt». Sich einzubilden, der eigenen Zeit voraus zu sein, kann nur, wer davon überzeugt ist, die gesellschaftliche Entwicklung folge dem Bewusstseinsstand der eigenen Arbeit, weil dieser ein avancierter sei, nach: So denkt man sich als Avantgarde. Wären die AnbieterInnen davon nicht überzeugt, müssten sie sich eingestehen, statt «fortgeschrittener Kunst» Sperrgut und Makulatur am Rand der Gegenwart zu produzieren, die höchstwahrscheinlich nie entgolten und unrezipiert untergehen werden. Dies würde für die meisten von ihnen ihre künsterische Tätigkeit zu einem sinnlosen Unterfangen machen.

Die ethische Unverantwortetheit dessen, was heute als «Kunst» gilt, hängt mit dieser letztlich dem Markt geschuldeten, fortgesetzten Behauptung von überzeitlicher Gültigkeit zusammen. Geschaffen wird grundsätzlich immer mit Blick auf ein in die Zukunft projiziertes Publikum, das erst das richtige sei, weil erst dieses bewusstseinsmässig fähig sein werde, das Werk wirklich zu erkennen und so zu einem erfolgreichen werden zu lassen. Diese Perspektive ermöglicht, das real existierende Publikum als uneigentliches wahrzunehmen, das nichts als formal verblüfft und inhaltlich beschummelt werden wolle. Deshalb sind zwei der hervorragendsten Eigenschaften dieser «Kunst»-Produktion das Anti-Kommunikative und das Ungefähre.

Übers Ganze gesehen sagt «Kunst» deshalb viel zu oft irgendetwas irgendwie. Wer nicht trotzdem applaudiert, ist ein Banause, was er allerdings – weil Teil des uneigentlichen Publikums – sowieso ist. In der Kunst gibt es keine Evidenz des Notwendigen, sondern bloss die Zelebrierung des Beliebigen für die Ewigkeit, die über das Engagement des Künstlers oder der Künstlerin einen Schein von Notwendigkeit verbreiten soll. Mit der Zelebrierung des Beliebigen bestrafen die erfolglosen AnbieterInnen aus ihrer Sicht die Welt-wie-sie-ist, indem sie Kunst als «Kunst» supponieren, das heisst: indem sie versuchen, ihren Blick auf die Welt gerade nicht zu entäussern, sondern für die Überzeitlichkeit aufzusparen.

So wird Kunst-Produktion zum ethisch nicht verantworteten Handeln. Sie ist Wucher mit dem Schein eines möglichst spektakulären Ungefähren. Ihre vordringliche Bedeutung ist für die Kunstschaffenden die, kulturelles Kapital zu horden, indem die Welt für die eigene Erfolglosigkeit bestraft wird. Veröffentlichte Kunst ist so gesehen kein Korrektiv zu den Diskursen der Macht, sondern vor allem andern das in Warenform gezwungene Ressentiment von Randständigen, die sich für ihre gesellschaftliche Zurückstellung schadlos zu halten versuchen.

2. Was wäre ethisch verantwortete Kunst?

Aus dem bisher Gesagten ergeben sich für eine ethisch verantwortete Kunst folgende Charakteristika: Im Augenblick ihres Erscheinens ist solche Kunst evident notwendig, insofern kommunikativ und präzis. Sie sagt nicht irgendetwas irgendwie, sondern ein Notwendiges präzis zur richtigen Zeit. Sie strebt keine überzeitliche Gültigkeit an (die anzustreben sowieso nie etwas anderes als Bluff sein kann), sondern parteiliche Intervention im Hier und Jetzt: Insofern sie das Notwendige ausdrückt, drückt sie alles andere nicht aus und verwirft es. Diese Negation ist notwendiger Teil jeder künstlerischen Intervention. Die Werkhaftigkeit ist tendenziell nur soweit ausgearbeitet wie zur eindeutigen Verständlichkeit nötig. Das kunsthandwerklich Fertige ist nicht notwendig, sondern warenästhetisch der besseren Verkäuflichkeit geschuldet.

Dieser Aspekt verbindet ethisch verantwortete Kunst mit den künstlerischen Avantgarden in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts (und etwa auch mit der Prozesshaftigkeit von subkultureller Kulturproduktion). Je ethisch verantworteter Kunst ist, desto weniger ist sie Werk. Je weniger sie Werk ist, desto weniger ist sie für den Markt als Warenform interessant. Je weniger sie Ware ist, desto freier ist sie, das Notwendige auszudrücken.

Die Schwierigkeit ethisch verantworteter Kunst besteht darin, die Grenzen der eigenen Form derart aufzulösen, dass sie mit ihrem direkten Umfeld der «Nicht-Kunst» zu diffundieren beginnt. Kunst blitzt als ein klar Notwendiges auf, das sich aber nicht ganz vom sie umgebenden Umfeld ablöst und – nachdem sie gesprochen hat – in dieses zurücksinkt und sich im Idealfall spurlos darin auflöst (unter diesem Aspekt könnte C. A. Looslis Gesamtwerk beispielhaft als ethisch verantwortete Kunst gewürdigt werden).

Ethisch verantwortete Kunst handelt ethisch, insofern sie ihre eigene Rezeption steuert; sie wartet nicht hinter Kassenhäuschen auf KäuferInnen, sondern sie sagt zu bestimmten Menschen und Menschengruppen das, was sie ihnen zu sagen für notwendig erachtet, und wenn sie gesprochen hat, schweigt sie. Das untrügliche Zeichen ethisch nicht verantworteter Kunst ist umgekehrt dieses: Die AnbieterInnen meinen ihr kommerzielles Interesse am Verkauf des Werks als Ware, sprechen aber von seiner notwendig massenhaften Rezeption, weil es bedeutend sei.

(23.+24.05.1994; 24.08.2005; 19.09.2017; 21.06.2018)

 

Nachtrag

Bei der Formulierung dieses letzten Arguments dachte ich zweifellos auch an folgende Episode: Mitte der achtziger Jahre war ich Augenzeuge eines für mich wichtig gewordenen Disputs zwischen dem WoZ-Redaktor rst und dem freien Mitarbeiter Niklaus Meienberg, der seine Reportagen damals zweifellos mit literarisch-künstlerischem Anspruch verfasste. Ersterer wollte letzteren überzeugen, aus Gründen der Solidarität einen bestimmten Beitrag – im Sinn meines Werkstücks ein Kunstwerk –  nicht der Weltwoche, sondern mit beträchtlicher finanzieller Einbusse der WoZ zum Abdruck zu überlassen. Meienberg hat damals sinngemäss geantwortet, sein neuer Artikel sei inhaltlich so wichtig, dass er dem grösseren Weltwoche-Publikum zur Kenntnis gebracht werden müsse.

Klar war dieses Argument auch ein Vorwand für das andere, die Ware dem besser Bezahlenden verkaufen zu wollen. Umgekehrt war klar, dass Meienberg mindestens einen Teil seiner Arbeiten zu einem vernünftigen Preis verkaufen musste, um von seiner Arbeit überhaupt leben zu können.

Wenn ich aus dieser Episode schliessen würde, Meienberg habe sich in diesem Fall gegen den ethisch verantworteteren Rahmen für sein Kunstwerk entschieden, dann würde sich die hässliche Seite meiner ganzen Argumentation zeigen: Wie sich marktgängige Kunst die RezipientInnen leisten können müssen, müssen sich Kunstschaffende ethisch verantwortete Kunst leisten können. Am besten können das jene, die nicht auf das Geld aus ihrer Arbeit angewiesen sind, reiche Leute also, die es sich leisten können, mit kulturellem und sozialem, statt ökonomischen Kapital zu spekulieren. Meienberg hat mich 1990 durchschaut, als er fragte, ob ich eigentlich eine franziskanische Seele oder ein Spekulant sei.

(24.08.2005, 19.09.2017; 21.06.2018)

v11.5