Notizen zu einem Zeitungsartikel

1.

Ich habe meine ökonomischen Bedürfnisse nicht an die Literatur gehängt. Deshalb kann ich es mir leisten zu verweigern, was hier und heute als Literatur gilt. Ob ich als Lyriker gelte, ist mir egal. Dem Literaturmarkt –  der Verwertungsindustrie der sich zweckfrei gebenden Sprache – setze ich mich nicht aus. Was ich zum Literaturbetrieb – diesem Wachsfigurenkabinett geld- und geistgieriger Möchtegerns – zu sagen habe, sage ich als Journalist. Aber ich gebe zu: Ich schreibe Gedichte.

2.

1989 hat der Produktionsleiter Daniel von Rüti meine vier Gedichtzyklen aus der Zeit zwischen 1974 und 1987 zum «Konvolut» zusammengefügt. Unvernünftigerweise behaupte ich: Ein Konvolut ist ein Buch ohne dessen Warenform. Darum kann das Konvolut nicht gekauft werden. Ich gebe es für 0 Franken ab an Interessierte, die mich interessieren.

3.

Es gibt zwei Arten von Spracharbeit: Solche, die versucht, Erkenntnisse zu vermitteln und solche, die sich um Erkenntnisse bemüht. Im ersten Bereich arbeite ich journalistisch, im zweiten lyrisch.

4.

Erkenntnismässige Spracharbeit ist Auseinandersetzung mit dem Sprachmaterial unter Laborbedingungen. Um herauszufinden, wozu Sprache taugt, muss sie an die Grenzen von Hermetik, Alleatorik und Verstummen getrieben werden. Ich konfrontiere Biografie und Wahrnehmung mit Sprachmaterial; ich suche den subjektiven Ausdruck, das Eigene, soweit es sich in Sprache zwingen lässt; ich versuche, erstarrte Sprachkonventionen aufzubrechen, führe mutwillige Angriffe auf den vernünftigen Ausdruck.

5.

Diese labormässige Erkenntnisarbeit an der Sprache ist im Verlauf der achtziger Jahre an eine Grenze gestossen. Zu lange schon experimentierte ich in einem echolosen Raum. Ich entschloss mich, einen Diskurszusammenhang über die bisherigen Resultate der lyrischen Arbeit herzustellen. Mich interessierte aber nicht die simulierte «Öffentlichkeit», die lyrische «Bücher» konsumiert, sondern die Auseinandersetzung mit den Menschen im realen Netz meiner sozialen Welt. Die Produktionskosten des «Konvoluts» habe ich deshalb à fonds perdu übernommen. Seine Produktion ist für mich eine kulturpolitische Aktion: Eine Publikation unter Laborbedingungen. Aussersprachliche Erkenntnisarbeit.

6.

Eine Öffentlichkeit im Bereich der Lyrik existiert in der Schweiz nicht, trotz Kurt Marti und Erika Burkhart, trotz Niklaus Meienberg und Mariella Mehr. Im Bereich von Lyrik heisst «Veröffentlichung» dreierlei: «der verlag hat erstens sein defizitgeschäft. die poetInnen [...] haben: kein feedback, keine auseinandersetzung mit ihrer arbeit und das vergnügen, vor bescheidenen ansammlungen von notorischen literaturbeflissenen, die alle irgendwie selber auch literarisieren, lesungen (à ca. 300.-) durchführen zu dürfen. als drittes folgt: ihnen geht der ruf voraus, sie hätten ein ‘buch’ ‘veröffentlicht’.» (aus «zum geleit») Für Lyrik gibt es zwar einen minimalen Markt, aber keine Öffentlichkeit; sie wird zwar ganz selten gekauft, aber diskutiert wird sie öffentlich nicht.

7.

Die Anfrage der Literaturkommission der Stadt Bern habe ich nach einigem Nachdenken abschlägig beantwortet: Sie hatte Belegexemplare angefordert, um eine allfällige Unterstützung zu prüfen. Ich schickte die Belege nicht und teilte mit, ich verzichte von vornherein auf einen Förderpreis oder einen Druckkostenbeitrag. (Laut gutunterrichteten Quellen hat die Kommission meine Arroganz als stossend empfunden.)

8.

Was sich zu Sprachgebilden kristallisiert, verändere ich nicht mehr. Die Kritik eines gescheiterten Versuchs bringt mehr, als das fortgesetzte Vertuschen seines Scheiterns. Jedes Sprachgebilde hat Grenzen, keines ist «richtig», keines «falsch». Gesucht ist immer «das Lebendige in der Poesie»: «Ich fühle so tief, wie weit ich noch davon bin, es zu treffen (...), Ach! die Welt hat meinen Geist von früher Jugend an in sich zurükgescheucht, und daran leid’ ich noch immer. Es gibt zwar einen Hospital, wohin sich jeder auf meine Art verunglükte Poët mit Ehren flüchten kann – die Philosophie. Aber ich kann von meiner ersten Liebe, von den Hofnungen meiner Jugend nicht lassen […].»[1]

9.

Ich gehe davon aus, dass soziales Bewusstsein Sprachbewusstsein ist. Erkenntnisarbeit an der Sprache ist Arbeit an der Politisierung des Bewusstseins. Es gibt keine politisierten Menschen, die nicht sprachbewusst sind. Umgekehrt: Wer mit Sprache arbeitet, politisiert sich notgedrungen. Unpolitische Dichtung gibt es nicht. Dichtung, die von sich sagt, sie sei unpolitisch, ist von vornherein politisch reaktionär.

[1] Friedrich Hölderlin an Ludwig Neuffer, 12.11.1798, in: ders.: Sämtliche Werke, Briefe und Dokumente in zeitlicher Folge, Band 6. München (Luchterhand) 2004, S. 170f.

Der aus diesen Notizen entstandene Zeitungsartikel erschien im Mai 1990 in der Zytglogge Zytig unter dem Titel «Wenn der Bundesrat Musik will, soll er selber jodeln».

(03.1990; 08.09.2017; 20.06.2018)

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