Exklusive Öffentlichkeit

Wie sich zum Beispiel der Begriff «Vernunft» nicht nur «von oben», sondern auch «von unten» denken lässt, lässt sich der Begriff «Öffentlichkeit» «von oben» und «von unten» denken.

«Öffentlichkeit von oben» ist ein jederzeit gesellschaftlich praktikabler «Öffentlichkeits»-Begriff, der sich in den letzten zweihundert Jahren verändert hat vom gesellschaftlichen Diskurs «eines Publikums räsonierender Privatleute» zur refeudalisierten politischen Öffentlichkeit, in der «die Organisationen mit dem Staat und untereinander politische Kompromisse» anstreben, «möglichst unter Ausschluss der Öffentlichkeit».[1] Zunehmend erscheint sie durch die Elektronifizierung der Kommunikationskanäle als mediale Simulation.[2] Herrschaft kommuniziert «öffentlich» unter Ausschluss derer, die vor zweihundert Jahren noch die Öffentlichkeit ausgemacht haben.

«Öffentlichkeit von unten» dagegen ist das, was – da die Öffentlichkeit räsonierender Privatleute unwiederbringlich untergegangen ist – ein Subjekt an Intersubjektivität herzustellen vermag, wenn es sich in der Öffentlichkeit hinstellt und sein Notwendiges hinausschreit. Diese Besetzung des öffentlichen Raums gilt dem herrschenden Sprachgebrauch freilich nicht als Herstellung von Öffentlichkeit, sondern, falls sie tatsächlich nicht ignoriert werden kann, als soziale Auffälligkeit. Es gibt – und das nicht nur in diktatorisch regierten Ländern – eine Schnittmenge zwischen dekretierter Psychopathologie und politischer Dissidenz.

[1] Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Darmstadt und Neuwied (Luchterhand) 1986, S. 8 und S. 273f. – Während Habermas in seiner Habilitationsschrift 1961 Öffentlichkeitsstrukturen analysiert, die «innerparteilich» und «verbandsintern» abgeschottet sind (S. 274), wendet der späte Max Horkheimer etwa gleichzeitig diesen Sachverhalt in den Gesprächen mit Friedrich Pollock ins Mafiöse: Regiert werde heute «durch die Cliquen» oder «Rackets»; «die Parlamente werden durch sie beherrscht, sei es, dass ihre Vertreter direkt ins Parlament gewählt werden, sei es durch die Lobbies.» (Max Horkheimer: Gesammelte Schriften Bd. 14. Frankfurt am Main [Fischer] 1988, S. 317.)

[2] «Die durch Massenmedien erzeugte Welt ist Öffentlichkeit nur noch dem Scheine nach.» (Habermas, a.a.O., S.205f.)

(29.07.1989; 03.03.2008; 08.09.2017)

 

Nachtrag 1

Im Geleitwort zum Konvolut, das ich zur Zeit vorbereite, ziele ich mit der «‘nicht-öffentlichen’ Distribution» auf diesen Begriff der «Öffentlichkeit von unten». Allerdings rede ich dort von «Nicht-Öffentlichkeit» und «Unvernunft», wenn ich «Öffentlichkeit von unten» und «Vernunft von unten» meine. Die Wortwahl hat ihre Richtigkeit: Im herrschenden Sprachgebrauch kann ich mich auf einen besetzten Begriff nur insofern beziehen, als ich seine Negation für mich in Anspruch nehme (statt darüber zu klagen, dass seine Affirmation für mich zurzeit unveränderbar fremdbesetzt ist).

(08.1989)

 

Nachtrag 2

«Von oben» bezeichnet «Öffentlichkeit» eine Struktur, die beeinflussbar, manipulierbar ist; sie ist eine Maschinerie, deren man sich zugunsten der eigenen Interessen bedienen kann; sie ist ein Instrument, dessen Handhabung man einübt, um es bei Bedarf einsetzen zu können.

Betrachtet man «von unten» diesen herrschenden «Öffentlichkeits»-Begriff, erscheint Öffentlichkeit als unbeeinflussbare, normative Gottesstimme, die schicksalshaft die Welt, in der man lebt, deutend regiert. Wenn heute in der Schweiz VertreterInnen von Herrschaftsinteressen «öffentlich» darüber lamentieren, die Mehrheit der «Bevölkerung» (wie das domestizierte «Volk» heisst) spiele in ihrem Demokratiespiel nicht mehr mit (Stimm- und Wahlabstinenz), weil sie irrigerweise sage: «Die machen ja doch, was sie wollen» dann ist das zynisch: Denn «die» machen wirklich, was sie wollen, insofern mit «die» jene bezeichnet sind, denen «Öffentlichkeit» Instrument und nicht Schicksal ist.

Für die Mehrheit ist die «Öffentlichkeit» als instrumentalisierbare tatsächlich unerreichbar. Deshalb ist dieser Mehrheit der Begriff – von dem sie doch annimmt, es sei klar, was er bedeute – in jener Form, in der er gegen sie verwendet wird, nicht denkbar. (Sind nicht alle Begriffe des gesellschaftspolitischen Diskurses in diesem Sinn doppeldeutig? Könnte man sagen, dass Ideologieproduktion überhaupt darin besteht, jeden relevanten Begriff janusköpfig so zuzurichten, dass die Vorderseite der schicksalsgegebenen Bedeutungshaftigkeit die Rückseite seiner instrumentellen Praxis einer Minderheit verdeckt?)

(14.09.1997; 08.09.2017; 17.06.2018)

v11.5